SWR2 Wort zum Tag

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Ich weiß nicht genau, wann das eigene Älterwerden begonnen hat, mich zu beschäftigen. Vielleicht, als mir bewusst wurde, dass ich nicht mehr all meine beruflichen Ziele erreichen kann. Vielleicht, als ich mir eingestehen musste, dass die körperlichen Kräfte mit 60 begrenzter sind als mit 35 oder 40 oder selbst noch mit 50. Als mir deutlich wurde, dass die einst scheinbar unerschöpflichen Lebensmöglichkeiten sich einengen; dass sich das Jungsein nicht festhalten lässt, dass ich nicht mehr zu den Jungen gehöre und ihre Interessen und Themen mir fremder geworden sind.
Allerdings haben betagte Menschen in meiner Biographie immer schon eine wichtige Rolle gespielt. Manche leben noch, manche sind bereits gestorben. Mein Doktorvater etwa oder eine mir sehr hilfreiche Ärztin; auch Künstlerpersönlichkeiten gehören dazu. Sie waren und sind geistig wach, aufgeschlossen, von innerer Lebendigkeit; und sie haben ihr Alter mit seinen Beschwernissen nie verleugnet, sondern souverän gelebt. Sie sind Autoritäten für mich.
Ihr Beispiel verdeutlicht, was Hermann Hesse einmal sagt: „Das Altwerden an sich ist ja ein natürlicher Prozeß und ein Mensch mit 65 oder 75 Jahren ist, wenn er nicht jünger sein will, durchaus ebenso gesund und normal wie einer von 30 oder 50.“ Und weiter: „Alter ist nicht schlechter als Jugend. […] Blau ist nicht schlechter als Rot. Alter wird nur gering, wenn es Jugend spielen will.“1
Das ist ermutigend. Allerdings: Mit zunehmendem Alter rückt auch der Tod näher. Unausweichlich, früher oder später. Dies wird jetzt deutlicher bewusst und fügt der immer schon nicht einfachen Kunst, leben zu lernen, eine neue Aufgabe hinzu: das Loslassen, ja das Sterben zu lernen. Der Jugendkult, dem manche bis ins Alter anhängen, zeigt, dass wir diese Kunst nur ungern erlernen. Verständlicherweise.
Und dennoch: Älter zu werden hat auch etwas Befreiendes. Ich muss meinen Lebenssinn nicht mehr in einer Karriere sehen, die ich dann vielleicht doch verfehle. Ich muss nicht mehr ständig mir und anderen etwas beweisen. Ich werde dankbarer für Erreichtes und lerne, zu Verfehltem ja zu sagen, weil es eben auch zu meinem Leben gehört. Ich kann – zumindest ein wenig – meinem Wissen vertrauen. Mein Leben bringt nicht mehr ständig Neues dafür aber vielleicht mehr Erfahrungstiefe. Dennoch möchte ich offen bleiben für Unerwartetes und Überraschendes. Nicht verschlossener möchte ich mit den Jahren werden, sondern freier.


Hermann Hesse, Mit der Reife wird man jünger. Betrachtungen und Gedichte über das Alter, hrsg. v. Volker Michels, Frankfurt/M.-Leipzig 1990 (insel taschenbuch 2311).https://www.kirche-im-swr.de/?m=6145
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