SWR2 Wort zum Tag

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„Ich würde alles für dich hergeben / mein Leben, mein Lächeln, /nur um dich glücklich zu sehen. / Ich habe nie daran geglaubt, /etwas so Wertvolles wie Dich zu finden.“ Janina hat diesen Text geschrieben. Sie ist 17 Jahre alt und lebt in einem Jugendhilfezentrum in der Nähe von Freiburg. In einem Heim, wie man sagt. Und wenn man „Heim“ sagt, dann denkt man sofort an Kinder und Jugendliche mit großen Schwierigkeiten, Opfer unglücklicher Lebensgeschichten, familiär verwahrlost und anderes mehr. „Heim“ bedeutet eine Sonderwelt.
Janina ist Mitherausgeberin und Mitautorin eines Buchs, das aus einer Schreibwerkstatt in diesem Jugendhilfezentrum entstanden ist. „Eine ganze Menge Leben“, heißt dieses Buch. Fast 70 Texte enthält es – kurze und lange Texte, aus der Feder von Achtjährigen und ebenso von jungen Erwachsenen. Diese Texte sind manchmal ruppig, widerspenstig, aggressiv, zumeist von feiner Sensibilität; manche klingen fröhlich, manche traurig. Viele der jungen Menschen mag es zunächst viel Überwindung gekostet haben, zu schreiben – über sich oder nicht über sich und dennoch von sich. „Ich kann nicht schreiben“, wird im Nachwort ein Junge zitiert, „ich kann gar nichts.“ Das ist das Wunderbare an diesem Projekt und an diesem Buch: Es zeigt die ganze Kraft, die Lebendigkeit, in jungen Menschen, die sich selbst manchmal abgeschrieben haben und oft auch von ihrer Umwelt abgeschrieben sind. Ich kann doch etwas – das zu erfahren ist vielleicht der größte Ertrag.
„Familien braucht man“, schreibt der 10-jährige Jonas. „Ohne Familie fühlt man sich einsam. Man hat niemanden, der einen liebt und bei einem ist. Familie ist eines der schönsten Dinge.“ Diese Zeilen sind in ihrer tieftraurigen Sehnsucht so erschütternd, dass man Jonas am liebsten in die Arme nehmen und trösten will. Doch diese Kinder und Jugendlichen wollen vielleicht Trost, aber kein Mitleid. Sie wollen ernst genommen werden – in ihrer Lebensgeschichte, in ihrer eigenen Gedankenwelt, in ihren Fähigkeiten, in ihrem Kleider- oder Musikgeschmack, in ihrer Kraft zu lieben oder auch zu hassen, in ihren Wünschen und Träumen. Sie wollen geachtet werden, und sie haben ein Recht darauf.
Janina, die an anderer Stelle über ihre Drogenprobleme schreibt, zitiert in einem kurzen Text den amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau: „Wer Fehler sucht, findet sie auch im Paradies.“ Und Janina fügt hinzu: „Auch mit Fehlern kommt man ins Paradies.“ Sie ahnt wahrscheinlich nicht, dass diese wenigen Worten mehr sagen als manche lange Predigt. Respekt!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4629
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