Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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14AUG2021
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„Ja wo kommst du denn jetzt her?“ fragt mich die alte Dame und schiebt ihre Brille zurecht. „Von der Arbeit“, sage ich, „es geht ja nicht jedem so gut wie dir“. Und ich lächle dabei. Muss ich auch, denn der Satz könnte durchaus ins Auge gehen. Die alte Dame ist 93 Jahre alt und liegt seit ein paar Wochen fest im Pflegebett. Die Chancen, da noch einmal heraus zu kommen, stehen schlecht. Nichts wäre ihr lieber, als so wie ich noch einmal sagen zu können: „Ich komme von der Arbeit“. Die Zeiten sind vorbei. Jedes Mal wenn ich komme, klagt sie mir ihr Leid. Wie schlimm das ist, jetzt tatenlos und hilflos im Bett liegen zu müssen. Angewiesen auf Hilfe in jeder Form. Was soll man da sagen? Und so reagiere ich dieses Mal mit dem augenzwinkernden Satz: „“Es geht ja nicht jedem so gut wie dir.“ Ich darf das, wir kennen uns und sie weiß, wie es gemeint ist. Sie droht mir mit dem Finger und ich setze mich zu ihr ans Bett und erzähle von meinem Tag. Der hatte es echt in sich. Und dann sagt sie: „Na ja, da ging es mir heute aber tatsächlich besser.“ Und wir reden davon, was sie alles in ihrem Leben so geschafft hat. Wie sie den Krieg überlebt hat, die große Familie gemanagt, den Garten umgegraben, die eigene Mutter gepflegt, den Kindern beim Hausbau geholfen, überall angepackt und und und…  Unvorstellbar, einmal nichts mehr zu tun, oder nichts mehr tun zu können. Und jetzt: Pflegebett. Und dann einigen wir uns für diesen Tag darauf, das Negative einfach umzudrehen: „Wie schön, dass ich jetzt ausruhen darf. Es ist alles geschafft. Ich darf ausruhen. Zumindest heute.“ Und ich merke: das hilft uns beiden. Und für morgen müssen wir uns wieder eine neue Antwort suchen.

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