SWR2 Wort zum Tag

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02NOV2020
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Von allen Risikogruppen, von denen in letzter Zeit immer wieder die Rede ist, ist eine mit Abstand die größte: die Risikogruppe Mensch. Weil Menschen sterblich sind. Aus dem Risiko der eigenen Sterblichkeit kann jederzeit eine Tatsache werden. Denn der Tod ist jedem von uns mit in die Wiege gelegt.

In einem Interview, das der Regisseur Frank Castorf in diesem Sommer gegeben hat, hat er dem Theater die Aufgabe zugewiesen, daran zu erinnern, dass wir den Tod nicht abschaffen können. Aber „das Problem ist“, sagte er, „dass wir in einer Welt leben, die glaubt, dass sie unsterblich sei. Die Unsterblichkeit ist unsere praktizierte Religion.“

Das ist ein wahrer, aber, wie ich finde, auch ein ergänzungsbedürftiger Satz! Denn für die Erinnerungsarbeit gibt es ja nicht nur das Theater.

Älter noch ist das „Memento mori“ der jüdischen und christlichen Religion. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“, heißt es in Psalm 90, „auf dass wir klug werden“.

Darum sind Gedenktage wie das gestrige Allerheiligenfest oder der heutige Allerseelentag wichtig. Sie erinnern daran: uns ist gemeinsam, dass wir zur Risikogruppe Mensch gehören. Dass wir Lebewesen sind, die früh oder später das Zeitliche segnen werden, wie es in einem schönen Bild heißt.

Klugheit also gehört dazu, will ich mich der „praktizierten Religion der Unsterblichkeit“ entziehen. Und stattdessen realistisch meine eigene Zukunft ins Auge fassen. Gelassen und gefasst.

Am besten geht das, glaube ich, wenn wir unsere Toten nicht aus den Augen verlieren. Die, die den Weg schon gegangen sind, den wir noch vor uns haben.

Manche von ihnen können darin unsere Lehrmeister sein, wie mit dem Risiko zu leben ist, dass der Tod irgendwann anklopfen wird. Mit der Unsicherheit, dass ich das Wann und Wie nicht weiß.

Biblischer Weisheit war immer schon der Gedanke wichtig, dass ich vorbereitet sein soll. So wie auf einen Gast, der irgendwann eintreffen wird. Das ist der Sinn dieses „Denke daran, auf dass du klug werdest“. Nicht um mir das Leben zu vermiesen. Sondern damit ich es in all seiner Buntheit und in allen seinen Facetten schätzen lerne.

Dabei hilft mir, an die zu denken, die mir vorausgegangen sind. Ja, es ist für mich ein Stück Lebenskunst, mit den Träumen und Hoffnungen derer verbunden zu bleiben, die – zusammen mit mir - zur Risikogruppe Mensch gehören.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31933
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