SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

01MAI2020
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Heute ist der Tag der Arbeit. Fühlt sich irgendwie komisch an, weil viele wegen der Coronakrise derzeit nicht arbeiten können. Hoffentlich ändert sich das bald wieder. Mir zeigt eine alte Geschichte, wie es gelingen kann, diese schwere Zeit durchzustehen. Da heißt es: Vor langer Zeit teilen Eltern ihr Erbe gerecht auf ihre beiden Söhne auf. Jeder erhält so viel von den Feldern und Äckern wie der andere. Der eine Bruder ist verheiratet und hat zwei Kinder, der Jüngere ist noch unverheiratet. Im Herbst ernten beide die Früchte, für die sie viele Monate gearbeitet haben. Sie bringen die Korngarben in ihre Scheunen. Doch in der Nacht kann der ältere Bruder nicht einschlafen. Mir geht es gut, denkt er, weil ich mit meiner Frau und meinen Kindern zusammenlebe. Ich will meinen Bruder besser unterstützen, der keine Familie hat. Er nimmt so viele Korngarben in den Arm wie er tragen kann und bringt sie heimlich in die Scheune seines Bruders. 

Dem Jüngeren geht es in derselben Nacht nicht anders. Er denkt: Ich habe mehr als genug geerntet. Dabei bin ich allein und brauche nicht so viel. Auch er trägt einen großen Schwung Korn in die Scheune seines Bruders. 

Am nächsten Morgen sind beide überrascht, dass in ihren Scheunen nichts fehlt. Auch als sie in der zweiten und dritten Nacht Korn in die Scheune des anderen tragen, bleibt alles wie es ist. Erst in der vierten Nacht begegnen sie sich auf dem Weg. Beide legen sie ihre Garben ab und fallen sich wortlos in den Arm. 

Mir zeigt diese Geschichte: Ob alle gut durch die Krise kommen, hängt auch davon ab, ob wir unsere Mitmenschen gut im Blick haben. Und ob wir bereit sind, miteinander zu teilen. Mich beeindrucken die vielen Beispiele von Menschen, die ganz selbstverständlich für ihre Nachbarn da sind. Bei uns im Stadtteil haben Jugendliche überall Zettel verteilt: Sie bieten an für alte und schwache Menschen einzukaufen. Nicht nur innerhalb der Familie, wie bei den zwei Brüdern in der Geschichte, sondern für alle, die Hilfe brauchen. Ganz viele Menschen achten auf ihre Nachbarn und Bekannten, organisieren Mehl, Klopapier und Hefe. An alle diese Menschen denke ich heute, am Tag der Arbeit. Super, was ihr für andere leistet!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30743
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