Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Die jungen Leute interessieren sich nicht mehr für die Erfahrungen der Alten“, beschwert sich eine alte Frau bei mir.

Ich glaube es ist anders rum:
Die jungen Leute interessieren sich sehr für die Erfahrungen der Alten, aber oft kriegen sie nicht gesagt, was wirklich war. Manche Geschichten werden ein bisschen umgebogen, oder geschönt und dafür haben junge Menschen ein sehr feines Gespür.

Welche Erfahrungen sind gefragt?
Die Jungen wollen Geschichten hören, die ehrlich sind, die auch die dunklen Seiten miterzählen.

Ich hatte eine Großmutter, die war sehr klug und gebildet. Dennoch war sie eine glühende Streiterin für den Nationalsozialismus. Sie sah nur, was sie auch sehen wollte. Erst spät sind ihr die Augen aufgegangen. Und da war sie zutiefst erschüttert über all das, was dann ans Licht kam.
Wenn sie später darüber geredet hat, hat sie den ersten Teil nie ausgelassen.
Sie hat immer die ganze Geschichte erzählt, mit ihren Irrtümern und ihrer Verblendung. Sie hat sich das ein Leben lang übel genommen, wie sie so blind und taub gewesen sein konnte, gerade sie, die sie doch immer von ihrem sozialen Gewissen getrieben war.

Warum hat sie das alles miterzählt? Weil sie nach all dem Schlimmen, an dem sie nichts mehr ändern konnte, wenigstens redlich bleiben wollte.
Sie glaubte:
„Nur wenn ich ehrlich mit meiner Geschichte umgehe, können die jungen Leute etwas daraus lernen. Auch, dass es einem besser geht, wenn man sich die Schuld eingesteht und es bitter bereut. Und dass Gott einem dann etwas von der Last abnimmt, damit man weiter leben kann.“

Mir bleibt meine Großmutter immer als gerader Mensch in Erinnerung; weil sie sich getraut hat, die dunklen Stellen in ihrem Leben mitzuerzählen.
Wenn ein älterer Mensch in dieser Weise von seinen Erfahrungen spricht, dann hören die Jungen zu. Da bin ich ganz sicher.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=2916
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