SWR2 Wort zum Tag

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Die vier archimedischen Punkte. So ist die Neujahrsansprache überschrieben, die Erich Kästner vor beinahe siebzig Jahren verfasst hat. Er sucht darin nach Orientierung in einer orientierungslosen Zeit. Man spürt, wie die Erschütterungen der Kriegsjahre und der Diktatur noch nachwirken. Noch ist unklar, wie es weitergehen soll. Wohin sich das geteilte Deutschland entwickeln wird.

Kästner ist nicht interessiert an frommen Wünsche für die Zukunft. Auch ein „Abwarten und mal sehen, was kommt“ kann es nicht sein. Dazu steht zu viel auf dem Spiel. Die gemeinsame Zukunft nämlich. „Jeder“, so sagt er, „jeder von uns und euch muss es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handele, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem. Fühlt er es nicht, so muss er’s fühlen lernen.“

Aber wie kann man es lernen in Zeiten, wo viele Werte ins Schwimmen geraten sind? Ihm fällt der griechische Mathematiker Archimedes ein. Der suchte für die physikalische Welt den einen festen Punkt, von dem aus er sich’s zutraute, die Welt aus den Angeln zu heben. Jetzt aber, sagt Kästner, kommt es darauf an, die soziale, moralische und politische Welt in die rechten Angeln hinein zu heben.

Und er nennt dafür vier solcher archimedischer Punkte. Erstens, jeder Mensch höre auf sein Gewissen! Denn das Gewissen ist wie eine Uhr, deren Ticken man zwar überhören kann. Die aber meistens richtiggeht.
Zweitens, jeder Mensch suche sich Vorbilder! Einen Menschen, der im richtigen Moment das gesagt oder getan hat, wovor wir zögern.
Drittens, jeder Mensch gedenke seiner Kindheit! Sich ihrer erinnern heißt nämlich, ohne langes Überlegen zu wissen, was echt und falsch, gut und böse ist. Und schließlich: jeder Mensch erwerbe sich Humor! Denn „der Humor lehrt uns die wahre Größenordnung... Bevor man das Erb- und Erzu?bel, die Eitelkeit, nicht totgelacht hat, kann man nicht beginnen, das zu werden, was man ist: ein Mensch.“

Ich finde diese Neujahrsansprache atmet biblischen Geist. Das Gewissen als Kompass. Das rechte Wort zur rechten Zeit. Die Vergewisserung, was gut und böse ist. Und schließlich der heitere Abstand zu sich selbst. Das sind, wie ich meine, gute Wegweiser, an denen man sich auch für das Jahr 2019 orientieren kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27925
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