SWR2 Wort zum Tag

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Ein Mathematiker und Kirchenvorsteher hat mir folgendes  mathematische Bonmot zum Besten gegeben: „Es gibt mehr vollkommene Menschen als vollkommene Zahlen“. Eingefallen ist ihm dieser Satz, als er im Gottesdienst die Bibelstelle Matthäus 11, Verse 2 bis 6 lesen sollte. Für ihn als Mathematiker war diese Bibelstelle bemerkenswert, da sie die kleinste zweistellige Primzahl 11, die kleinste gerade Primzahl 2 und die kleinste vollkommene Zahl 6 vereinigt. Wahrscheinlich kann nur einem Mathematiker diese Besonderheit auffallen.

„Mathematiker haben eine andere Vorstellung von Vollkommenheit als Theologen“ gibt mein Kirchenvorsteher zu bedenken. Wohl wahr, denn außer Jesus Christus ist mir kein vollkommener Mensch bekannt, während es mehr als eine vollkommene Zahl gibt. Eine Zahl gilt dann als vollkommen, wenn die Summe ihrer Teiler sie selbst ergibt, also 1 und 2 und 3 gibt zusammen 6. Das kommt ziemlich selten vor, aber eben schon mehrfach. Interessant fand ich wiederum, dass niemand bislang weiß, wie viele vollkommene Zahlen es insgesamt gibt, und auch nicht, ob es ungerade vollkommene Zahlen gibt.

Jetzt könnte man natürlich Gott ins Spiel bringen, nach dem Motto: Er hat als einziger den Überblick über alle vollkommenen geraden und ungeraden Zahlen. Ich fände das ein bisschen billig. Festzuhalten ist aber schon, dass eine vollkommene Wissenschaft Illusion ist. Selbst in der so perfekt und rein erscheinenden Wissenschaft der Mathematik gibt es Wissenslücken. In jeder Wissenschaft, ob nun Theologie oder Mathematik, gibt es offene Fragen und viele Gründe, weiter zu forschen. Die Wurzel aller Wissenschaft, finde ich, ist das Staunen. Das kann dann sogar Mathematik und Theologie verbinden, denn selbst ich als Nicht-Mathematikerin komme angesichts der verwirrenden vollkommenen Zahlen ins Staunen.

Mag sein, dass Mathematiker und Theologen ganz unterschiedliche Sprachspiele und Denkfiguren haben: Es kann Freude machen, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Mein Kirchenvorsteher hat Humor. „Und wie immer in weiten Teile der Mathematik beachten: Nicht nach dem Nutzen fragen...“. Normalerweise wird das ja eher den Theologen vorgehalten, das der Nutzen ihrer Wissenschaft offen sei. Aber wohin kämen wir, wenn der sichtbare Nutzen allein bestimmen würde, was Wissenschaft ist und was nicht? Und was wäre Leben, wenn nur der Nutzen zählt. Und: Wer bestimmt eigentlich, was nützt und was nicht? Reicht es manchmal nicht aus, über vollkommene Zahlen zu staunen oder darüber, dass sie immer, wirklich immer auf 6 oder 8 enden? Das hat mir jedenfalls mein Mathematik-kundiger Kirchenvorsteher erklärt.

Vollkommen möchte ich nicht sein, aber das Staunen über vollkommene Zahlen möchte ich mir bewahren. Und die Freude am wissenschaftlichen Spiel. Und an diesem unvollkommenen, wunderschönen Leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25960
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