SWR2 Wort zum Tag

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„Glauben, Religion, Christsein, das ist nichts für mich“, sagt mein Nachbar. „Da habe ich zu viele Zweifel!“ Immer wenn wir Beide über dieses Thema diskutieren, kommt von ihm früher oder später dieser Satz. „Da habe ich zu viele Zweifel.“ Dabei gefällt mir seine lebendige Art. Sein wacher Blick in die Welt. Und ich frage mich, ob er Recht hat mit der Meinung, Zweifel und Glauben würden einander ausschließen.

Sicher – der Zweifel hat, was den Glauben angeht, keinen guten Ruf. Übrigens nicht nur im Blick auf religiöse Dinge. Wer zweifelt, setzt sich leicht dem Vorwurf aus, er beschädige den sozialen Zusammenhalt. Das war schon in der Antike so. Sokrates zum Beispiel. Er meinte, alles, was wir wissen, sei immer wieder in Frage zu stellen. Dafür wurde er mit dem Tod bestraft.

Einige Zeit später räumt Paulus dem Zweifel in einem seiner Briefe sein gutes Recht ein. Weil nämlich, wie er schreibt, unser ganzes Wissen letztendlich Stückwerk sei. Fragmentarisch und vorläufig. Und damit notwendigerweise dem Zweifel ausgesetzt. In der Bibel wird der Zweifel also keineswegs zur Seite geschoben. So wird von den Frauen am leeren Grab Jesu erzählt, dass sie zweifelten.   

Heute, wo der Zweifel in manchen Ländern unter Strafe gestellt ist, meine ich, dass es höchste Zeit ist, den Zweifel zu loben. Er schützt vor Überheblichkeit gegenüber anderen Meinungen und erzieht zur Bescheidenheit gegenüber der eigenen.

Bekannt ist, dass die großen Reformatoren, Weisheitslehrer und Mystiker aller Zeiten ihren Glauben durch Zweifel hindurch gewonnen haben. Sie kannten die inneren Nöte und Anfechtungen, in denen der Grund ihrer Gewissheiten ins Wanken geriet. Aber sie erlebten umgekehrt auch, wie aus dem Zweifel neue Kraft wachsen kann. Ein größerer und weiterer Horizont. Und eine Offenheit für die Fragen und Probleme anderer. Sie erfuhren, dass dem Zweifel eine schöpferische Kraft innewohnt. Weil er den Glauben in Bewegung hält.  

Für mich besteht die Modernität der christlichen Religion gerade darin, dass sie dem Zweifel Raum lässt. Und so allen fundamentalistischen Versuchungen trotzt. Der Zweifel lehrt mich, dass die Wahrheit des Glaubens nicht wohlfeil an der Oberfläche abzufischen ist. Sondern ich ihr – suchend und fragend - auf den Grund gehen muss. Auf diesen Weg würde ich meinen zweifelnden Nachbarn gerne mitnehmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24654
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