SWR2 Wort zum Tag

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Manchmal staune ich. Neulich zum Beispiel wieder: bei der Abschlussvorstellung des Kinder-Ferienzirkus, bei dem meine Tochter mitgemacht hat. Nur vier Tage waren die Kinder zusammen – und am Ende stand eine ganze Stunde Zirkusprogramm, mit Jongleuren, Trapezkünstlern, Einradfahrern und Bodenakrobaten. Das war wirklich zum Staunen – und es hat richtig Spaß gemacht, dabei zuzusehen, was die Kinder in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben.

Aber das Beste daran war: Jedes Kind hat etwas gefunden, dass es wirklich gerne macht. Und niemand war überfordert, weil jeder das geboten hat, was ihm möglich war: Statt einer Radwende sah auch ein schwungvoller Drehsprung als Abgang vom Kasten gut aus. Und die junge Artistin mit Down-Syndrom hat, während sie anmutig über den Schwebebalken stolziert ist, sicherheitshalber noch die Hand einer anderen kleinen Zirkuskünstlerin festgehalten. Dabei waren alle so motiviert, dass sie nicht einmal gemerkt haben, dass sie dabei eine ganze Menge Turnübungen absolviert haben – sogar diejenigen, bei denen Turnen sonst nicht zu den Lieblingssportarten gehört.

 „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten!“ (Matthäus 5,16). An diesen Satz aus der Bergpredigt von Jesus musste ich denken, als ich über die Kunststücke der Kinder gestaunt habe. „Ihr seid das Salz der Erde“ – „Ihr seid das Licht der Welt“ (Matthäus 5,13f): So hat Jesus seine Zuhörerinnen und Zuhörer ermutigt, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zu nutzen.

Im Ferienzirkus ist das gelungen. Die Kinder haben entdeckt und gezeigt, was sie alles können, und alle hatte Freude daran gehabt. Uns Erwachsenen dagegen fällt es oft schwer, unsere Fähigkeiten unbeschwert zu zeigen und so auch anderen zu Gute kommen zu lassen. Warum eigentlich? Ich glaube, oft ist es der Perfektionismus, der dabei im Weg ist. Dem jungen Jongleur im Kinderzirkus sehen alle es lächelnd nach, dass nur jeder zweite Versuch gelingt. Erwachsene aber wagen sich meist nur an Dinge, bei denen sie sich ganz sicher sind. Die Ansprüche an Professionalität nehmen auch im Freizeitbereich zu. Und zu peinlich ist es vielen, zum Beispiel beim Singen mal einen schiefen Ton zu produzieren oder auf Nachfrage eine Antwort nicht zu kennen.

Ich finde das schade! Denn so bleiben viele kreative und praktische Fähigkeiten, aber auch viele Kenntnisse und Erfahrungen ungenutzt, die auch anderen Menschen Freude machen oder sogar helfen könnten. Vielleicht kennen Sie ja auch jemanden, in dem solche Talente schlummern? Dann machen sie ihm oder ihr doch im Sinne von Jesus Mut, dieses Licht leuchten zu lassen.

Manchmal braucht es dafür auch nur den richtigen Ort. Wer nicht vor großem Publikum singen mag, der macht vielleicht älteren Menschen im Seniorenkreis eine große Freude mit einem gemeinsamen Singnachmittag. Und wer gerne Geschichten für Kinder schreibt, kann seine erste Dichterlesung im Kindergarten veranstalten. Und wenn es noch schwerfällt, kann vielleicht jemand helfen – wie bei der Artistin auf dem Schwebebalken. Auf jeden Fall bin ich sicher: Sie werden staunen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22846
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