SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Von Khalil Gibran gibt es ein Gedicht, in dem es heißt: Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Das klingt auf den ersten Eindruck so, als ob Gibran Eltern die Freude an ihren Kindern verderben will. Ich glaube, er will vor einer Gefahr warnen.

Da wird ein Kind geboren und alle Verwandten und Bekannten freuen sich sehr. Aus einem Liebespaar werden Eltern und aus Eltern Großeltern. Ich finde es schön, wenn ich sehe, wie stolz Eltern sind. Sie nehmen meistens genau wahr, wenn ihr Kind wieder etwas Neues lernt, was wir alle einmal mühsam gelernt haben. Sie staunen über die kleinen Errungenschaften, die für uns Erwachsene normal geworden sind: Wenn das Kleine zum ersten Mal selbständig sitzt oder die ersten Schritte geht. Wie schnell möchte man da denken, dass das eigene Kind eines der schönsten und klügsten ist und dass es natürlich eine gute Entwicklung durchmachen wird. Gut erzogen, gut gebildet, später mit einem sicheren Beruf und eines Tages mit einer eigenen Familie. Diese Erwartungen sind die Wünsche der Angehörigen. Und mit Sicherheit gut gemeint. Aber sie können auch bedeuten, dass sie das Kind nicht als eigenständige Person sehen, sondern als Teil ihrer eigenen Wünsche.

Das merke ich bei meiner kleinen Nichte. Sie ist noch ein Baby. Aber weil ich musikalisch bin und Musik mag, lauere ich auf den ersten Ton, der nach Gesang klingt. Schon auf dem Sprung, ihr das erste Lied beizubringen. Das ist in Ordnung, wenn sie das mag. Aber wenn sie es nicht mag, will ich sie nicht so manipulieren, wie ich sie gerne hätte. Ich will ja, dass sie ihr Leben entfalten kann und ihre eigenen Wünsche entdecken lernt.

Kinder machen unsere Welt reich. Jedes hat eine eigene Persönlichkeit, einen wunderbaren Charakter. Und der muss nicht nach meinen Vorstellungen sein. Vielleicht kann ich helfen, dass sie so werden, wie es für sie gut ist. Aber dabei will ich es mit Gibran so halten:

„Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22434
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