SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Warum folgt im Kirchenjahr auf den Himmelfahrtstag nicht gleich das Pfingstfest? Warum schiebt das Kirchenjahr zehn Tage dazwischen? Das hat kirchengeschichtlich bestimmt ganz triftige Gründe, aber ich mag mir einfach vorstellen, dass die Jüngerinnen und Jünger ein paar Tage für sich brauchten, nachdem sie Jesus in Richtung Himmel verlassen hatte und bevor sie in Jerusalem der Heilige Geist erwartete. Zehn Tage waren sie ganz auf sich allein gestellt und mussten erwachsen werden. Wenn dem so wäre, dann erwiese sich Gott durch diese Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten als wahrhaft kluger Vater. Denn nichts lässt Menschen besser reifen als Zeiten, in denen sie ganz auf sich allein gestellt sind. Leider haben Eltern - ich nehme mich da nicht aus - manchmal den fatalen Hang, ihre Kinder überzubehüten oder es immer besser zu wissen. Selbstverständlich wissen es Eltern tatsächlich manchmal besser, aber das ändert nichts daran, dass ihre Kinder nur dann aufblühen können, wenn ihnen eigene Fehler und unbegleitete Zeiten zugestanden werden. Wie viele Firmenübernahmen sind schon daran gescheitert, dass der Senior sich nicht aus der Leitung verabschieden wollte, wie viele Kinder haben sogar schon ganz den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, weil die sich einfach mit Ratschlägen nicht zurückhalten konnten. Dabei ist es richtig wohltuend, wenn man den Kindern ihr eigenes Leben gönnt. Mir hat es gut getan, dass mein Sohn nach dem Abitur in eine andere Stadt gezogen ist, drei Autostunden von der Mutter entfernt. So weiß er genau, dass ich nicht spontan, sondern nur angemeldet vor der Tür stehe, und ich freue mich heute über seine Besuche und bin nicht genervt, wenn er erst nach Hause kommt, wenn ich gerade meinen Arbeitstag beginne. Wenn wir uns heute unterhalten, dann profitiere ich von seiner Perspektive und ab und zu findet er es sogar interessant, was ich zu sagen habe.

Wenn ich den christlichen Glauben richtig verstehe, dann hat Gott seine Menschen nicht als Marionetten erschaffen, sondern als Wesen, die ihm ein Gegenüber sind. Echte Partner brauchen Freiräume, um zu ihren eigenen Gedanken zu finden und diese miteinander ins Gespräch zu bringen. Das ist ein riskantes Unterfangen, aber nur so bleibt es spannend. Für Gott und für uns.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21941
weiterlesen...