Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ein gnadenreiches Weihnachtsfest wollte ein Freund von mir seinen Freunden wünschen, nicht traditionell mit einer Postkarte, sondern, wie es heute üblich ist: mit dem Handy, per SMS. Die Handys unterstützen einen beim Schreiben. Wenn ich die beiden Buchstaben V I eingebe, schlägt das Handy mir vor, ich soll „viele“ schreiben oder „vielleicht“ – es denkt mit, hat Erfahrungen, was es für deutsche Wörter gibt, die mit V I anfangen. Ein pfiffiges Teil.

Martin wollte „gnadenreiche Weihnachten“ schreiben, aber da spielte das Handy nicht mit. Es kennt nur gnadenlos, das schlug es vor, aber Martin wollte eben gnadenreich. Wahrscheinlich weiß das Handy nicht, was das bedeutet; es kennt dieses Wort nicht. Ich finde das erschreckend und sehr aufschlussreich. Es bedeutet ja, dass die deutsch schreibenden Menschen das Wort „Gnade“ sehr oft mit „los“ kombinieren, also „gnadenlos“. So etwas merkt sich das System, auf dem die Sprachvorschläge beruhen,  und schlägt deshalb zu Gnade immer gnadenlos vor.

Gnadenreich, das ist ein schönes, altes, fast altertümliches Wort. Wir kennen es auch nur im Zusammenhang mit Weihnachten: gnadenreiche Weihnachten. Gnade ist etwas anderes als  Glück: Glück ist Zufall, Gnade ist geschenkt. „Gegrüßet seist du, Maria voll der Gnaden“ heißt es in einem Gebet. Es ist Gottes Gnade, die in einem Menschen aufstrahlen kann. Den Abglanz davon meinen wir, wenn wir sagen: lasst Gnade vor Recht walten. Alte Tiere bekommen manchmal auf einem Gnadenhof das Gnadenbrot. Und manchmal erhält jemand eine Gnadenfrist: unverdient und so eine Erleichterung!

Ich glaube, ich bringe meinem Handy dieses schöne alte Wort mal bei. Mein Handy ist nämlich lernfähig. Und wenn das Handy es lernen kann, dann können wir Menschen das auch: nicht gnadenlos sein sondern gnädig: mit anderen und mit uns selbst.

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