SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Kein Ort. Nirgends“ lautete der Titel eines Buchs von Christa Wolf, Buch und Titel finde ich faszinierend. Denn das geht ja gar nicht: Ohne Ort sein. Wir sind ja leibliche Geschöpfe und brauchen einen Ort, an dem wir schlafen, essen, lieben und arbeiten können. Mag sein, dass wir in Gedanken in der Ferne schweifen können, aber unser Leib braucht einen Ort, und unser Gehirn in ihm auch. Kein Ort nirgends - das ist im Grunde die Negation des Lebens, und passenderweise erzählt das Buch ja auch von der Begegnung zweier Menschen, nämlich Karoline von Günderode und Heinrich von Kleist, die sich nie begegnet sind und sich beide das Leben genommen haben.
Ein Ort, irgendwo. Wir Menschen brauchen Orte, und sind zugleich immer wieder mit der Aufgabe konfrontiert, diese Orte wieder zu verlassen. Mein Sohn ist ausgezogen und kommt nur noch auf Besuch. Meine Kollegin hat nach ihrer Pensionierung die Koffer gepackt und ist nach Berlin gezogen. Ein ehemaliger Konfirmand arbeitet heute in China. Und ein altes Ehepaar aus meiner Gemeinde muss sich aus seiner Wohnung verabschieden und in ein Seniorenwohnheim ziehen. Unsere Orte muten uns zu, dass wir sie - alle! - irgendwann verlassen müssen. So trägt jeder Ort den Schmerz des Abschieds in sich.
Wo ist mein Ort? Ich denke an eine Mittagsstunde an der Amalfi-Küste. Ich war ganz allein unterwegs und fand einen Platz, an einem schon herbstlich wirkenden Tag, mitten zwischen zauberhaft angelegten Terrassengärten hoch über der Küste und blickte auf das Meer. Es war einfach schön, ein Kunstwerk. Und ich atmete tief ein und dachte: du bist da. An deinem Platz. Ich wusste, dass es kein Ort auf Dauer ist, ich wollte das auch gar nicht. Das musste auch gar nicht sein. Aber dort, hoch über der Amalfi-Küste, in den Gärten von Ravello, da war für eine Stunde mein Ort. Und danach?
Meinen Ort hatte ich für eine Stunde gefunden, er war geliehen, gewisslich nicht mein Eigentum, sondern auf kurze Zeit mir geschenkt. Weil ich das wusste, war es schön wie eine unerwartete Liebesgeschichte, berauschend und zugleich beruhigend. Seitdem kenne ich das Staunen darüber, einen Ort zu finden, der stärker ist als der Schmerz darüber, keinen sicheren und bleibenden Ort zu haben. Zugleich war es ein heiliger Moment. Es gibt mehr als Keinen Ort und ein Nirgends. Ich wusste: Wir haben hier nichts Bleibendes. Dieser Ort ist woanders.

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