Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

In Indonesien, auf der Insel Sulawesi, lebt ein Volk, das nie einen Friedhof besuchen muss. Denn sie haben ihre Verstorbenen eigentlich immer um sich herum. In fast jedem Dorf gibt es Dutzende von Totenhäusern, oft prachtvoller als die Wohnhäuser der Lebendigen. Da ruhen die Toten, oft gibt es noch lebensgroße Holzpuppen mit den Gesichtszügen der Verstorbenen. Sie tragen deren Kleidung, haben die Lieblingszigarettenmarke zwischen den hölzernen Lippen und – makaber für unser Verständnis-  tragen die Haare des Toten als Perücke. Für dieses Volk ist die Gesellschaft wie ein großes Netz, durch das niemand, auch die Toten nicht, hindurch fällt.

Ich finde das faszinierend, denn bei uns ist es ja mittlerweile fast umgekehrt. Wer tot ist,  verschwindet. Dabei ist die Menschheitsfamilie tatsächlich wie ein Netz. Die Einzelnen sind darin wie die Knoten. Jeder ist hineingeknüpft, mit anderen verbunden, durch andere weitergeknüpft. Er wird durch andere gehalten und gibt andern Halt. Es ist gut, wenn man das immer wieder handfest erleben kann. Das Volk der Toraja in Indonesien hat da kein Problem. Die Erinnerung gehört zu ihrem Alltag. Bei uns muss man das mühsam organisieren. Familienfeiern z.B. oder Treffen mit Freunden. Man muss anrufen, Termine ausmachen, Orte festlegen. Je mobiler wir werden, umso mühsamer wird das Ganze. Rituale sind selten geworden. Der Totensonntag heute ist so ein Ritual. Wenn überhaupt, dann ist es der November mit seinen Gedenktagen, an denen man sich auf dem Friedhof  trifft.

Es treffen sich die Lebenden mit den Lebenden und es treffen sich die Lebenden mit den Verstorbenen. Ritualisiert natürlich, so ist das eben in einer Gesellschaft. Aber diese Rituale sind wichtig. Das Ganze kann dann in dem Satz gipfeln: „Dann bis nächstes Jahr.“  Es ist gut, dass man das sagen kann. Es gibt Sicherheit, auch wenn man nicht weiß, ob man das Versprechen halten wird oder halten kann. Wir leben aus Traditionen.

Christen glauben, dass  Menschen mehr sind als die Erde, ihre Vollendung mehr als ein zugeklappter Sargdeckel oder ein mit Asche gefülltes Gefäß. Der Besuch auf dem Friedhof gibt den Raum dazu. Wer will und wer sich die Zeit nimmt, der kann es spüren. Das Netz wird nicht zerschnitten, der Knoten wird nicht gelöst. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18699
weiterlesen...