SWR2 Wort zum Tag

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„Ich muss jetzt für meine Schwestern Mutter und Vater zugleich sein“, sagt die 20-jährige Sahra. Die Begegnung mit ihr und ihren vier Schwestern zwischen zehn und 18 Jahren hat mich ganz besonders erschüttert, als ich in diesem Herbst im Nordirak war.

Nach langer Fahrt durch zerklüftetes, karstiges Bergland kommt unsere kleine Reisegruppe in Lalisch an, dem wichtigsten Heiligtum der Religionsgemeinschaft der Yeziden. Schon auf dem Weg zu dem mittelalterlichen Bauwerk in einem abgelegenen Tal sehen wir links und rechts der Straße Flüchtlinge in Zelten und notdürftigen Verschlägen kampieren. Das Heiligtum selbst wird durch Bewaffnete gesichert wie eine Festung. In den alten Gemäuern kauern Flüchtlinge in Winkeln und Nischen um provisorische Feuerstellen, ohne fließendes Wasser. Etwa zehn Personen müssten sich zwei Matratzen teilen, erfahren wir. Kinder betteln uns an.

Als die Mörderbanden des so genannten Islamischen Staates die Stadt Sinjar im Nordwesten des Irak überfallen haben, sind fast 400.000 der dort lebenden Yeziden ins Gebirge geflohen. Wochenlang waren sie Hitze, Durst und Hunger ausgesetzt. Die Strapazen, von denen uns einige berichten, sind unvorstellbar. Es sei die 73. Verfolgung der Yeziden seit ihrer Religionsgründung in vorchristlicher Zeit, sagt man uns. Aber diese sei die Schlimmste.

Unbeschreiblich ist das Schicksal der Frauen und Mädchen. Mehr als 5.000 haben die IS-Schergen verschleppt, um sie wie auf dem Basar zu verkaufen. Davon erzählt Sahra, die uns mit ihren Schwestern, alle tief verschleiert, gegenüber sitzt. Von dem Kaufmann spricht sie, dessen Nachbarn sie waren und bei dem sie eingekauft haben und der jetzt die Familien zusammentreibt, die Jungen und Männer von den Frauen und Mädchen trennt und erschießen lässt. Die Mutter hatte sich schützend vor die Töchter gestellt, sie wurde niedergeschlagen und fortgeschleppt; die Kinder haben nie mehr etwas von ihr gehört. Vom früheren Freund eines Onkels erzählt Sahra, der sie und ihre Schwester sich gefügig machen will, angeblich um sie zu retten. Es ist eine Geschichte von Verrat und Gewalt. Sie lässt aber auch etwas ahnen von der unglaublichen Besonnenheit und dem Mut, womit es Sahra gelingt, die Geschwister  beieinander zu halten und schließlich in Sicherheit zu bringen. Erschütternd ist dabei auch die nicht erzählte, die verschwiegene Geschichte, die die junge Frau tief in sich verbirgt – nicht nur gegenüber uns, den Fremden, sondern auch ihren eigenen Angehörigen gegenüber. Denn eine Frau, die als entehrt gilt, hat in dem streng traditionellen Moralsystem keine Zukunft mehr. Zumindest das werde sich jetzt vielleicht ändern, so sagt man uns. Wie sehr hoffe ich das für Sahra und ihre Schwestern und die vielen namenlosen yezidischen Mädchen und Frauen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18621
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