SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Schön finde ich die Fotos von Wolfgang Tillmans nicht. Auf einem Foto sehe ich zum Beispiel einen Mann, der sich einen Splitter aus dem Fuß entfernt. Oder einige Menschen, die seltsam ineinander verknäult am Strand liegen. Der Fotograf will mit seinen Bilder wohl auch verstören und Fragen aufwerfen. Etwas mehr konnte ich mit diesen Bildern anfangen, als ich folgenden Satz von Wolfgang Tillmans gelesen habe: „Mich interessieren Menschen, die um ihre eigene Zerbrechlichkeit und um ihre Einsamkeit wissen, das erlebe ich als etwas sehr lebendiges.“ Ein Satz, über den ich zwei Mal nachdenken muss: Menschen, die wissen, dass sie zerbrechlich und einsam sind. Wie kann ich das als etwas Lebendiges erleben? Mir macht es erst einmal Angst, wenn ich daran denke, zerbrechlich oder einsam zu sein. Ich will nicht zerbrechlich leben, sondern stabil und abgesichert. Und da bin ich offensichtlich nicht allein: Wir bauen Häuser nach genauen Bauvorschriften. Wir sind versichert gegen Glasbruch oder gebrochene Knochen. Außerdem wollen wir nicht einsam sein, sondern pflegen unsere Kontakte in Vereinen oder im Internet.

Und doch: Wolfgang Tillmans sieht in der Zerbrechlichkeit und Einsamkeit einen besonderen Wert. Er sagt ja nicht, dass wir besonders riskant oder einsam leben müssten. Aber er meint, es lohnt sich, darum zu wissen: Unser Leben ist zerbrechlich und jeder Mensch bleibt immer ein wenig einsam.

Wenn ich das nicht weiß, kann mein Leben sehr anstrengend werden. Dann versuche ich zum Beispiel, Liebe und Glückum jeden Preis festzuhalten. Meine Beziehung darf auf keinen Fall zerbrechen. Ich will absolut gesund leben und mir all meiner Freunde ganz sicher sein. Aber die Erfahrung zeigt: so ein Leben wird nicht funktionieren. Selbst wenn es gut geht, verliert eine erstarrte Liebe ihren Reiz. Was wäre ein Freund wert, mit dem ich immer einer Meinung bin? An einem Freund muss ich mich auch reiben können, er soll mir auch mal die Meinung sagen dürfen.

Ich glaube, es braucht viel Mut, sich der Tatsache zu stellen, dass ich immer ein bisschen einsam sein werde – und dass mein Leben zerbrechlich ist. Aber wenn ich mich dem stelle, sehe ich auch, wie kostbar und einzigartig das Leben ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17294
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