SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Am Ende des Tals liegt die kleine Kapelle. Oberhalb des Dorfes auf 1900m Höhe. Erreichbar nur über einen Wiesenweg, der durch einen grünen Lärchenwald führt. Die evangelische Kapelle im kleinen Südtiroler Bergdorf Sulden.
Sie ist auch heute noch ein Kleinod. Und ein Refugium für viele Menschen, wie ich bald merke. Denn als Urlaubsseelsorger ist mir für ein paar Wochen in diesem Sommer anvertraut.
Jeden Tag kehren Wanderer in sie ein. Halten inne auf ihrem Weg zu einem der umgebenden Berge.
Manchmal kommt auch keiner. Dann sitze ich auf der Bank am schlichten Holztisch vor der Kapelle und lese in meiner Ferienlektüre, einem Roman von Hanns-Josef Ortheil. „Das Kind das nicht fragte".
Darin erzählt die Hauptfigur, der Ethnologe Benjamin Merz,  von Orten, die er brauche, um in einer fremden Umgebung heimisch zu werden. Wohlfühlpunkte, nennt er sie. Refugien.
Und dabei spielen für ihn Kirchenräume eine bedeutsame Rolle. „Großer Gott!", sagt er, „wie oft bin ich in eine Kirche gegangen, wenn es mir schlecht ging und ich nicht wusste, wie ich mich von meinen Lähmungen befreien sollte... Ich setzte mich ins Dunkel, in eine der hintersten Reihen, und ich wartete, bis mich die Jahrhunderte einholen und aufnehmen."
Und er entdeckt, dass er seine verstummte Stimme in der Gemeinschaft der Versammelten wiederfindet. „Ich  brauche nur mitzubeten und mitzusingen - und schon gehöre ich ganz selbstverständlich zu dieser Gemeinschaft. Für etwa eine Stunde bin ich aufgehoben in diesem Kreis der Beter und Sänger, und wenn ich die Kirche verlasse, erscheint mir die Umgebung weniger kalt und feindlich."
Als Leser spüre ich, wie sich in solchen Sätzen meine Erfahrungen wieder spiegeln, die ich selbst an und in der kleinen Kapelle mache. Es ist dies ein heilsamer Ort, der mir Raum zum Atmen schenkt. Und Abstand. Das alte Psalmwort fällt mir ein: „Herr du bist meine Zuflucht für und für." Ein Refugium nicht nur vor Regen und Wind, sondern auch in Krisen und Nöten.
Jedenfalls bin ich schnell heimisch geworden in fremder Umgebung dank dieser kleinen Kapelle. Die Zugehörigkeit aber, die ich dort  verspürt habe, lässt mich auch jetzt, wo wieder zurück bin, nach den Plätzen und Orten schauen, die für mich zu Hause Wohlfühlpunkte, Refugien, geworden sind.
Denn ich brauche sie gerade auch im Alltag. Und ganz in meiner Nähe!
Als Räume, in denen ich mich immer wieder neu finden kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15965
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