Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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04MAI2024
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Mein Vater ist 89 Jahre alt. Das glaubt keiner, weil er viel jünger aussieht. Und weil er noch immer neugierig und wach ist. Auch im hohen Alter ist er offen für neue Erfahrungen. Das macht es für ihn aber nicht immer einfach: So wie kürzlich, als wir gemeinsam in einem Konzert waren. Es hat meinen Vater begeistert, wie der junge Pianist Beethovens 3. Klaviersonate interpretiert hat. „So frisch und jugendlich habe ich diese Sonate noch nie gehört“, hat er dann zu seiner Nachbarin im Konzertsaal gesagt. Die hat ihn entgeistert angeschaut und geantwortet: „Respektlos könnte man auch sagen“. Mein Vater war noch Tage später irritiert, welches Urteil sich die Dame über den jungen, begabten Künstler erlaubt hat.

Mein Vater ist offen und direkt und kann gleichzeitig sehr reflektiert auf sein langes Leben zurückschauen. Junge Menschen hören ihm auch deshalb gerne zu. Ich merke, wie gut ihm solche Situationen und so ein Austausch tun. Denn: Alt werden ist auch für ihn keine leichte Aufgabe. Vor Jahren habe ich das schon einmal mit meiner Mutter intensiv erlebt. Jetzt begleite ich meinen Vater dabei. Es ist schwer für ihn, dass seine Kräfte nachlassen, obwohl sein Verstand noch so wach ist. Das kleine Gartenbeet vor der Garage kann er plötzlich nicht mehr pflegen. Die Getränkekisten lässt er im Eingang stehen, bis jemand kommt, der sie in den Keller tragen kann. Für die Steuererklärung braucht er viel länger als früher. Wie schwer ihm das fällt, kann nur verstehen, wer sich in ihn hineinversetzt. Sieht man die Fakten denkt man schnell: Na so schlimm ist das nun wirklich nicht. Für ihn ist es schlimm, weil er sich langsam von seinen Kräften verabschieden muss. Außerdem ist ihm jeden Tag bewusst, dass der Tod nahe ist. Eben ohne genau zu wissen, wann er sterben wird.

Solange er noch so für sich sorgen kann, wie er das jetzt tut, ist das ein großes Glück. Alles, was doch noch geht, ist schön, nicht selbstverständlich: Die vielen Treppen steigen, in dem Haus, in dem er seit 55 Jahren wohnt. Selbst noch mit dem Auto einkaufen fahren können. Den Sommerflieder und die Hortensie vor dem Haus im Herbst schneiden. Ich wünsche ihm, dass er oft dabei denken kann: Danke! Dass das immer noch geht, auch wenn ich schon fast 90 bin.

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