Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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02MAI2024
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Ich hatte immer Angst vor Prüfungen. Ganz schlimm waren mündliche Prüfungen. Ich seh mich noch als wäre es gestern gewesen. Beim mündlichen Abitur in meinem braunen Kleid. Alles, was ich gelernt hatte, war wie weggeblasen. Später dann, im Theologiestudium, hatte ich viele mündliche Prüfungen. Einer der Professoren war noch dazu bei allen Studierenden gefürchtet. Ich wusste: Mit so viel Angst würde ich die Prüfung nie bestehen. Damals habe ich entschieden, in die Sprechstunde des Professors zu gehen. Ihm zu sagen, dass ich Angst vor ihm habe und dass mir dann nichts mehr einfällt. Es war eine gute Entscheidung, mit ihm zu sprechen. Mein Mut hat ihn beeindruckt. Er hat mir zugehört und war freundlich. Auch in der Prüfung. Und ich konnte zeigen, was ich in seinem Fach verstanden hatte.

Diese Erfahrung war wegweisend für mich. Als junge Studentin habe ich es noch als Schwäche empfunden, dem Professor von meiner Angst zu erzählen. Ich habe mich dafür geschämt. Später habe ich erkannt, wie mutig und stark ich damals war. Ich bin zu mir gestanden.

Heute weiß ich, dass es eine meiner Stärken ist, zu Menschen ehrlich zu sein. Anzusprechen, was los ist, obwohl etwas manchmal nur unterschwellig im Raum steht. Direkt etwas zu benennen und nicht um den heißen Brei zu reden. Nicht nur, wenn es um mich selbst geht, wie damals vor der Prüfung. Ich mache das heute zum Beispiel auch im Gespräch mit Kollegen. Einer, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, hat mit der Zeit immer verwahrloster und unglücklicher ausgesehen. Ich habe ihn direkt darauf angesprochen und offen gefragt, wie es ihm geht. Ohne zu urteilen. In diesem Fall war der Kollege dankbar und hat erzählt, was ihn bedrückt. Anschließend hat er sogar den Mut gefunden, sich Hilfe zu holen.

Direkt und ehrlich bin ich aber nicht nur im Konfliktfall. Ich habe mir auch angewöhnt, anderen zu sagen, was ich an ihnen mag oder wenn mir etwas gut tut. Das sage ich manchmal sogar Menschen, die ich gar nicht kenne. So wie vor kurzem der Verkäuferin an der Käsetheke, weil sie mich ausgesprochen freundlich bedient hat. Sie hat gelacht und sich für das Kompliment bedankt. Es war ein schöner Moment – für uns beide.

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