Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

05JUL2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Manche Leute haben wirklich jede Menge Energie. Ich staune, was sie alles gleichzeitig machen. Beruf, Familie, Hobbys und noch ein Ehrenamt…

Aktiv zu sein, viel zu machen steht bei uns hoch im Kurs. Wer das kann, gilt als stark und erfolgreich. Und der Sinn des Lebens besteht für viele darin, möglichst viel rauszuholen aus der Lebenszeit.

Aber – frage ich mich – was ist mit den weniger Energiegeladenen? Den Normal-Aktiven? Und noch schlimmer: Was ist mit der Zeit im Leben, in der gar nichts mehr geht? Wenn Dinge geschehen, die man nicht ändern kann – auch wenn man sonst noch so aktiv und rührig ist?

Immer wieder treffe ich Menschen, die in sehr schwierigen Situationen stecken. Die eine Trennung verkraften müssen. Die eine Krankheit haben, die ihr Leben umkrempelt. Manchen raubt das die letzte Kraft. Und ich staune, wie es ihnen trotzdem gelingt, ihr Leben zu leben – trotz und mit ihrer Trauer, ihrer Wut, ihrer Verunsicherung. Was hilft ihnen dabei?

Der Theologe Jörg Zink hat sich darüber Gedanken gemacht. Ob wir mit Leid umgehen können, sagt er, kommt auch darauf an, ob wir darin geübt sind. Aber, stellt er fest: „Es ist heute schwer, darin geübt zu sein“. Das liegt einerseits daran, dass es mehr Möglichkeiten gibt als früher sich abzulenken von Traurigkeit oder Angst oder schweren Gedanken. Andererseits, so Zink, liegt es auch daran, dass „niemand unter uns einen Sinn darin sieht, leiden zu können. Noch nie“, schreibt er, „haben die Menschen einander so einseitig gewertet wie heute. Unter uns ist einer so viel wert, wie er leistet.“

Ich finde, was Jörg Zink schreibt, ist sehr bedenkenswert. Denn tatsächlich besteht mein Leben ja nicht nur aus den Zeiten, in denen ich aktiv sein kann. Es gibt auch die anderen – auf jedem Fall ganz am Anfang und ganz am Ende des Lebens, aber auch dazwischen. Zeiten, in denen ich angewiesen bin auf andere. Zeiten, so schreibt Zink, „in denen es wichtiger ist, geduldig zu sein als tüchtig, besser, Schmerzen gewachsen zu sein als zu arbeiten, nötiger … die Einsamkeit einer Nacht auszuhalten als am Tage mitzureden.“ Diese Zeiten, sagt Zink, sind uns fremd geworden, aber er ist überzeugt: Diese Zeiten „sind es, in denen sich zeigt, wer wir in Wahrheit sind.“

Kann man sich also tatsächlich darin üben, mit Leid umzugehen? Ich glaube: Wie ich auf einen schlimmen Schicksalsschlag reagiere, das habe ich nicht im Griff. Aber wie Jörg Zink glaube ich auch: Es ist wichtig, die schweren Seiten des Lebens nicht zu verdrängen – auch und gerade dann, wenn es mir gut geht. Und nie zu vergessen: Du bist mehr als das, was du tust oder leistest! Viel mehr…

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37960
weiterlesen...