SWR3 Gedanken

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07JUL2023
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Ich sitze vor einem Stapel Briefen. Die allermeisten Briefumschläge sind von Hand beschriftet und haben so eine schwarze Linie am Rand. Es sind die Kondolenzkarten von Nachbarn, Freundinnen und entfernten Verwandten. Denn vor wenigen Tagen ist mein Vater gestorben.

Meine Tante hat zu mir gesagt: „Lass dir mit den Karten Zeit. Das ist emotional, da überleg dir gut, wann du das schaffst.“ Sie hatte Recht. Wenn ich so lese, was andere an meinem Vater alles geschätzt haben, tut das wirklich nochmal weh, dass er jetzt nicht mehr bei uns ist.

Aber andererseits ist es auch schön, die vielen Karten zu lesen. Wie viele Leute da an einen denken! An der Karte von meinem Freund Gerhard bleibe ich besonders lange hängen. Vorne drauf ist ein Segelboot abgebildet, und in die Karte rein hat Gerhard einen Zettel mit einer Geschichte gelegt. Da steht:

Ein Segelboot startet seine Reise über den Ozean. Es segelt immer weiter davon und irgendwann verschwindet es am Horizont. Da sagt jemand: „Jetzt ist es verschwunden.“ Verschwunden wohin? Es ist aus dem Sichtfeld verschwunden – mehr nicht. Sein Mast, sein Rumpf, seine Segel sind genauso groß wie zu dem Zeitpunkt als es am Strand abgelegt hat. Dass es so klein geworden ist und dass ich denke es ist verschwunden, das liegt nur an meiner Perspektive. Und in dem Moment, wenn einer sagt: „Es ist weg“, rufen andere begeistert: „Da kommt es.“

Ich klappe die Karte zu und denke: das Leben hat so viele Dimensionen, und nicht alle davon kann ich direkt sehen. Wenn ich überlege, wo mein Vater jetzt ist, dann ist es einfach schön, wenn ich mir vorstelle: ich sehe meinen Vater jetzt nicht mehr, aber die auf der anderen Seite vom Horizont, die sagen: Schaut mal, er kommt.

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