SWR2 Wort zum Tag

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26MRZ2022
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Leben ist das, was passiert, während man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Hat ein kluger Mensch einmal gesagt. Damit ist eine Lebenserfahrung beschrieben, der der Soziologe Hartmut Rosa in einem anregenden Essay nachgegangen ist. Der Titel lautet: „Unverfügbarkeit“.

Rosa beschreibt, wie der Wunsch, sich alles verfügbar zu machen, in modernen Gesellschaften allgegenwärtig geworden ist. Überall wird uns versprochen: alles ginge immer noch besser, noch schneller, noch effizienter. Bis hinein in die persönliche Lebensführung herrscht das Credo: mein Leben wird besser, je mehr es mir gelingt, mehr von der Welt unter meine Verfügungsgewalt zu bringen.

Aber, und das ist die andere Seite, wir zahlen dafür einen hohen Preis. Denn je mehr wir auf allen Ebenen darauf zielen, uns alles verfügbar zu machen, desto mehr verstummt und versteinert die Welt um uns her. Sie begegnet uns nur noch als Reihe von Objekten, die es zu wissen, zu beherrschen oder zu nutzen gilt. Genau dadurch aber geht alle Lebendigkeit verloren.

Mich erinnert das an eine Frage Jesu: „Was hilft es dem Menschen, sich die ganze Welt verfügbar zu machen, wenn er dabei Schaden nimmt an seiner Seele?“

Tatsächlich ist es so: wo alles verfügbar wird, geht verloren, was mich unmittelbar ansprechen könnte. Da verstummen die Stimmen, die von außen kommen und mir etwas zu sagen haben.

Schaden nehmen an der Seele heißt ja, sich nicht mehr berühren lassen, nicht mehr erreichbar sein, die Sinne verstopfen - vor dem Gesang der Vögel, dem Duft des nahen Frühlings, der Frage eines Kindes.

Erst das Zulassen des Unverfügbaren belebt das Leben. Erst dann spüre ich: da ist noch etwas Stärkeres am Werk als ich es bin. Etwas, das mir gegenüber tritt, mich anspricht, anruft, manchmal herausholt aus eingefahrenen Bahnen.

Ein unverhoffter Anruf vielleicht, der mich aus der Routine reißt. Eine Melodie aus frühen Jugendtagen, die mich berührt wie damals. Ein weiter Kirchenraum, dessen Stille meinen Blick in eine andere Richtung lenkt.

Dann spüre ich, da gibt es etwas, was ich nicht steuern kann. Was Seiten in mir zum Klingen bringt, die mir normalerweise verborgen, die vielleicht sogar verschüttet sind. 

Und plötzlich, während ich doch gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt bin, meldet sich das Leben bei mir. Überraschend und unverfügbar.

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