SWR2 Wort zum Tag

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08FEB2022
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Ich sehe ihn noch vor mir, wir er mir am Tisch gegenüber sitzt. Ein alter Mann mit weißen Haaren, der seinen 85. Geburtstag feiert. Immer noch erstaunlich rüstig. Mit wachen Augen und regem Geist. Wir unterhalten uns über das hohe Alter und die vielen Jahrzehnte, auf die er nun zurückblicken kann. Und dann sagt er diesen Satz: Als ich ein junger Mann war, dachte ich, das Leben wäre ein langer Marathon. Heute weiß ich, es war ein kurzer Sprint.

Seitdem, ich war Anfang 20 und Zivi in seinem Seniorenheim, habe ich diesen Satz im Gedächtnis behalten. Damals lag das, was dieser alte Mann mir an seinem Geburtstag gesagt hat, weit jenseits meiner Vorstellungskraft. Heute, mit Mitte fünfzig, muss ich feststellen, es ist so. Auch für mich. Gestern noch Vater eines kleinen Jungen, heute ist er schon erwachsen. Diese Erfahrung gehört wohl zum Älterwerden dazu. Die Zeit vergeht, wie im Flug, von Jahr zu Jahr und immer schneller. Und mit ihr auch die Lebenszeit.

In Psalm 31 habe ich gelesen: „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Da schreibt einer in Gedichtform über sein Leben. Über die Zeit und die Zeiten, die er erlebt. Und breitet vor Gott aus, was ihm zu schaffen macht und ihm zusetzt, was ihn in Rage oder zu schierer Verzweiflung bringt, was ihm hilft, Zuversicht und Hoffnung gibt.

Und in der Mitte von all dem steht, wie ein Fels, der Satz: Meine Zeit steht in deinen Händen. Wenn ich es richtig verstehe, heißt das, dass Gott jede Minute und jede Stunde, jedes Jahr und jedes Jahrzehnt meines Lebens in seinen Händen hält. Und dass Zeit nicht einfach nur verfließt und vergeht. Sondern dass sie irgendwie in Gottes Händen aufgehoben ist und bleibt. Wertvoll und kostbar. Zu jeder Sekunde und Minute meines Lebens. Nicht nur an guten Tagen, sondern auch an denen, die schwer sind, und ich sagen kann, hilf mir durchhalten, Gott. Meine Zeit steht in deinen Händen.

In dem Gespräch damals hat mir der 85jährige Mann auch erzählt, wie viele Stationen, Orte, Menschen, Begegnungen seinen Lebensweg prägten. Und dass für ihn, bei allem Vergehen, mit den vielen Erinnerungen, die damit verbunden sind, doch auch etwas von der Fülle des Lebens spürbar ist. Und dafür ist er dankbar.

Das habe ich damals für mich mitgenommen: Dankbarsein für die mir geschenkte Zeit. Und die Zeit, die ich habe, nutzen. Jede Stunde, jeden Tag.

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