SWR3 Gedanken

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16DEZ2021
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Online-Konferenzen sind wieder Alltag. Könnte man sich jetzt drüber beschweren. Oder rumjammern. Oder beides. Mach ich aber nicht. Mir gefällt es nämlich, wenn ich 20 Leute auf einmal völlig unbemerkt beobachten kann. Alle sehen auf ihren Bildschirmen dieselben 20 Leute frontal auf den Bildschirm starren. Aber wen ich da im Einzelnen fixiere, weiß niemand.

Ein ganz klein wenig kriege ich dabei Allmachtsphantasien. Der Kollege hat ja keine Ahnung, dass ich soeben den fehlenden Knopf an seinem Hemdkragen bemerke. Meine Nachbarin auf der Bildkachel links sieht wahnsinnig müde aus. Und Ingas Brille hat Flecken.

Und dann fällt mir ein, dass es ja sein könnte, dass mich die anderen genauso unbarmherzig abscannen. Ich bemerke es ja nicht. Vielleicht zählt gerade jemand meine grauen Haare. Oder blickt schadenfroh auf meine zahlreicher werdenden Fältchen um die Augen.

Mein Allmachtsrausch fällt in sich zusammen. Ich wünsche mir barmherzige Blicke. Am besten solche die mich so sehen, wie ich gerne wäre.

Deswegen stelle ich mir lieber vor, dass wir alle Mitglieder einer riesigen Onlinekonferenz mit Gott sind. Gott selbst hat die Kamera für seine Bildkachel ausgeschaltet. Um so intensiver sieht sich Gott uns Menschen an. Mit unseren Makeln und mit unserer Schönheit. Gott schaut uns an und sieht den Hoffnungsglanz unter den Schlupflidern. Und die Sehnsucht nach Leben hinter dem nervösen Tick. Und das große Herz, das sich durch die schiefen Zähne pocht.

Gott schaut uns an und schaut uns schön. Weil wir Gottes Geschöpfe sind. Faltig, aber mitfühlend. Etwas aus der Form, aber offen für andere. Grauhaarig, aber großzügig. Unperfekt, aber geliebt. Ich liebe online-Konferenzen. Zumindest Online-Konferenzen mit Gott!

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