SWR2 Wort zum Tag

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12NOV2021
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Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich an einer Stelle vorbei, an der ein Verbrechen passiert ist. In den ersten Tagen haben die roten Absperrbänder der Polizei mich daran erinnert. Inzwischen stehen dort Kerzen und Fotos. Leute kommen vorbei, legen Blumen ab oder bleiben einfach in Stille stehen. Ein junger Mann wurde hier schwer verletzt und ein zweiter junger Mann ist später an den Folgen der Tat gestorben. Ich habe den Toten nicht gekannt, vermutlich wie die meisten, die hier vorbeikommen und stehen bleiben. Aber wie sie beschäftigt es mich. Jeden Morgen merke ich an diesem Ort/dieser Stelle deutlich, dass ich nicht in einer heilen Welt lebe.

Gleichzeitig weiß ich aber, dass die Welt vorher nicht besser oder heiler war. Denn Verbrechen geschehen täglich. Nur jetzt, wo es so nah an mich herankommt, hat das etwas verändert. Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen spreche, sagen sie ähnliches. Sie kommen auch jeden Tag an dieser Stelle vorbei und es beschäftigt uns alle. Uns ist plötzlich viel stärker bewusst, dass diese Welt nicht in Ordnung ist. Keiner von uns hat Angst, dass uns etwas passiert. Das ist es nicht. Es ist eher, dass wir sonst ausblenden, wie zerbrechlich das Leben ist und was Menschen anderen Menschen antun können. Es hilft, wenn wir darüber reden, was uns dabei durch den Kopf geht. Wenn ich weiß, dass die anderen ähnlich fühlen und denken, verbindet uns das.

Ich glaube, es ist wichtig und hilft, die Realität hin und wieder so hart zu erleben. Es macht mir bewusst, dass ich mich nicht in meine kleine private heile Welt flüchten kann. Und es zeigt mir auch, dass ich eine Sehnsucht danach habe, dass diese Welt heil wird und eines Tages ohne Gewalt auskommt. Dafür engagiere ich mich als Christ. Wo Menschen zusammenleben, gibt es immer Missverständnisse und Konflikte. Das ist nicht das Schlimme. Im Gegenteil: Jeder Streit ist auch eine Chance, dass ich die besser verstehen lerne, die anderer Meinung sind als ich oder anders denken. Ich habe schon hitzige Streit erlebt, bei denen ich laut, zynisch und verletzend werde, wenn ich Recht behalten will. Ich will deshalb versuchen, in solchen Situationen erst einmal zu stoppen. Und dann sachlich bleiben. Wenn es mir dann noch gelingt, meinem Diskussionspartner wiederzuzuhören, ist es mir schon passiert, dass wir auch eine Lösung finden.

Was mich dazu motiviert? Ich vertraue darauf, dass Gott am Ende alles gut werden lässt. Aber darauf will ich nicht warten, sondern aktiv daran mitarbeiten. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34228
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