Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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26OKT2021
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Unsere Freundin hat uns ein wunderbares Vermächtnis hinterlassen: Drei kleine Bilder, die sie nacheinander gemalt hat; die hat sie dann zu einem einzigen Kunstwerk nebeneinandergesetzt. Drei Aquarelle über die Zeit ihrer Krankheit bis kurz vor ihrem Tod.

Auf dem ersten Bild hockt sie auf einem dunklen Felsen, die Hände verzweifelt vors Gesicht geschlagen. Alles drum herum ist in düster und wolkenverhangen. Und eine große Traurigkeit geht davon aus. Auf dem zweiten Bild lichtet sich der Himmel; sanftes Gelb durchbricht das Grau. Sie schaut auf und streckt zaghaft eine Hand aus. Auf dem dritten Bild ist der Himmel in leuchtende Farben getaucht; der Boden unter ihren Füßen schimmert in herrlichem Blau und Grün. Und sie steht da, streckt die Arme gen Himmel, ihr Gesicht ein einziges Strahlen. Eine erstaunliche Entwicklung, von der sie da erzählt.

Anscheinend leuchtet die auch nicht jedem ein. Und so war ich total verblüfft, als mal jemand gesagt hat: „Ist ja merkwürdig: Sie hat die Reihenfolge falschrum gemalt - sonst macht es ja keinen Sinn.“ Er wird wohl gedacht haben: So selig, wie auf dem letzten Bild kann man doch nur in die Welt schaun, wenn man gesund und munter ist. Dann die Erkrankung... Und zuletzt die Verzweiflung, weil die Sache so aussichtslos geworden ist...

Aber meine Freundin hat das nicht verkehrt herum gemalt. Sie hat widersprochen. Und für mich macht gerade diese Widersprüchlichkeit die Bilder so kostbar. Denn sie erzählt von einer verborgenen Wahrheit: Von grenzenloser Verzweiflung und vom Annehmen der neuen Wirklichkeit. Und schließlich von der hellen Vorfreude darauf, die gebrochene Hülle ihres Körpers endlich abzustreifen. Und frei zu sein. - Das waren ihre Worte: Die gebrochene Hülle abstreifen und frei sein...Und ich würde noch weiter gehen:
Für mich ist dies letzte Bild auch ein Sinnbild für die Auferstehung. Mich überwältigt die Hoffnungsfreude, die davon ausgeht. Und wann immer ich es betrachte, geht sie auf mich über.

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