Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

02OKT2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Mir ist die Welt oft zu laut. Ich wohne an einer Straßenkreuzung. Hier fahren Straßenbahnen, Busse, Autos. Schulkinder schreien, Eltern rufen, Fahrradfahrer klingeln. Ich hätte manchmal gerne einen Lautstärkeregler – so wie an meinem Radio – und würde der Welt den Ton abdrehen. Das ist eine schöne Vorstellung. Geht ja aber leider nicht.

Ich kenne ein Kinderbuch, da ist es andersherum. Es heißt: der kleine Gott und die Tiere. Es erzählt die Schöpfungsgeschichte nach biblischem Vorbild aber mit einem Unterschied: Gott ist ein Kind. Ich schätze ihn auf ungefähr 8 Jahre. Die Geschichte setzt an, als Gott gerade damit fertig ist, die Welt zu erschaffen. Er schaut sich das blühende Paradies an und er merkt: es ist zu still. Und da denkt er sich die Tiere aus. Unter seiner kindlichen Schaffenskraft entstehen die abenteuerlichsten Kreaturen: vom Löwen bis zur Gottesanbeterin, vom Goldfisch bis zur Nachtigall. Als alles fertig ist, ausstaffiert und angemalt, fehlt noch der Ton. Gott steht wie ein kleiner Dirigent inmitten seiner Tiere und gibt den Einsatz. Eins-zwei-drei: Und jedes Tier schreit nach seiner Art. Was für eine Vorstellung. Was für ein Höllenlärm. Aber Gott steht da auf dem Bild und lächelt glücklich. Denn: Lärm ist Leben.

Lärm ist Leben, denke ich und blicke wieder auf unsere belebte Straßenkreuzung. Ich sehe die Gruppe von Schulkindern. Offensichtlich zeigt einer gerade ein besonders lustiges Video auf seinem handy, denn alle um ihn herum lachen ausgelassen. Eine Fahrradfahrerin kommt vorbei und klingelt – einer der Schüler steht gefährlich weit auf dem Radweg. Der Lieferant vom Restaurant versperrt eine Ausfahrt mit dem Lieferwagen. Jemand will raus und hupt. Sie verständigen sich. Die Straßenbahn klingelt und hält. Ja, Leben. Bunt und vielfältig. Ein bisschen so wie die Kreaturen in dem Kinderbuch. Jeder und jede schreit auf ihre Art. Und daraus entsteht ein großes lautes Lebenskonzert. Ein bisschen versöhnt mich das. Vielleicht wäre es mir auch zu leise, so ganz ohne Ton. Und dann schließe ich das Fenster – denn, ein bisschen leiser ist trotzdem gut!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33969
weiterlesen...