SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

08AUG2021
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wenn ich von meiner Arbeitsstelle nach Hause fahre, dann steige ich ab und zu am Bahnhof Schifferstadt um. Einem kleinen Bahnhof mit drei Bahnsteigen in der pfälzischen Provinz. Vom Gleis 3, an dem ich immer umsteige, existiert bis heute das letzte Lebenszeichen einer Heiligen. Am 7. August 1942 hielt mittags dort ein Deportationszug an, der hunderte Menschen ins Vernichtungslager Auschwitz transportierte. Unter ihnen war auch Edith Stein. Und dort am Gleis 3 soll sie einen Zettel aus einem Fenster des Zuges geworfen haben, mit Grüßen an die Dominikanerinnen im nahen Speyer, die sie gut kannte. Nur zwei Tage nach dieser kleinen Episode, am 9. August, haben die Nazis sie dann ermordet. Unmittelbar nach Ankunft des Zuges in Auschwitz. Ich gebe zu, als die katholische Kirche sie vor gut 20 Jahren zu einer ihrer Heiligen gemacht hat, war ich skeptisch. Ausgerechnet sie, ging es mir damals durch den Kopf. Mir kam das damals fast vor wie der schale Versuch meiner Kirche, sich so von dem Versagen gegenüber den Juden zumindest ein wenig reinzuwaschen. Ausgerechnet Edith Stein, die Jüdin, die erst katholisch und dann Ordensfrau geworden ist. Und die sterben musste wegen ihrer jüdischen Wurzeln. Papst Johannes Paul II. nannte sie damals eine „herausragende Tochter Israels“, aber auch eine „treue Tochter der Kirche“. Beides gehört bei ihr in der Tat untrennbar zusammen. Und so kann man Edith Stein heute nicht als Heilige verehren, ohne an das Verbrechen der Shoah zu erinnern.

Heilig. So bezeichnet die Kirche einen Menschen, dessen Leben in besonderer Weise auf Gott hinweist. Ein Mensch, der uns eine Ahnung davon gibt was es heißt, wenn jemand Gott ganz besonders nahe kommt. Edith Stein, oder Schwester Theresia Benedicta vom Kreuz, wie sie später auch hieß, erscheint heute als so ein besonderer Mensch. Doch wie kann ich mich ihr annähern? Sie war eben nie volkstümlich, keine leutselige Heilige „zum Anfassen“. Sie war eine scharfe Denkerin und brilliante Philosophin.

Edith Stein kam zwar aus einer frommen jüdischen Familie. Doch einen Zugang zum Glauben ihrer Vorfahren hat sie lange nicht gefunden. Mehr noch: Sie habe sich als Jugendliche „das Beten ganz bewusst und aus freiem Entschluss abgewöhnt“, schreibt sie einmal und sieht sich lange selbst als Atheistin. Doch tief in ihr bleibt immer eine Leerstelle. Eine ungestillte Sehnsucht. Ob das ein Zugang zu ihr sein könnte?

MUSIK

Um eine ganz besondere Heilige geht es heute Morgen in den Sonntagsgedanken. Um Edith Stein, Philosophin, Ordensfrau und Jüdin. 

Mir sind schon einige Menschen begegnet, die sich – wie die junge Edith Stein – das Beten abgewöhnt haben. Weil ihnen der Glaube, so wie sie ihn kennen gelernt haben, nichts geben konnte in ihrem Leben. Weil er keine überzeugenden Antworten parat hatte auf ihre Lebensfragen. Ob sie trotzdem, so wie sie, diese Leerstelle in sich gefühlt haben? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass die Frage, welchen Sinn das Leben hat, viele Menschen irgendwann umtreibt. Diese Warum-Fragen, auf die es nie einfache Antworten gibt. Warum lebe ich überhaupt? Warum musste ein innig geliebter Mensch so plötzlich sterben? Warum werde ich überhaupt geliebt und wie kann ich selbst andere lieben? Manche, so wie Edith Stein damals, nennen es eine Suche nach „Wahrheit“. Doch vielleicht ist diese Suche nach Wahrheit, nach Verlässlichkeit genau genommen ja schon der Beginn einer Suche nach Gott.

Heilige. Vorbilder sollen sie sein. Sollen Leuten wie mir zeigen, was so gehen kann zwischen Gott und uns. Aber nicht mit dem drohend erhobenen Zeigefinger nach dem Motto: Genau so musst du auch werden, wenn du den Himmel sicher haben willst. Nein, sie alle wussten schließlich: Den Himmel kann man sich nicht verdienen. Da kann ich noch so fromm sein und noch so viele gute Werke tun. Ob der Himmel am Ende meines Weges auf mich wartet, das liegt allein bei Gott.

Aber wie kann mir eine Heilige wie Edith Stein dann näherkommen? Kann sie mir überhaupt Vorbild sein für meinen Glauben? Oder steht sie für mich nicht viel zu hoch für mich auf einem Sockel? Als blitzgescheite Philosophin, christliche Ordensfrau und jüdische Märtyrerin. Am Ende ist es vor allem ein Punkt gewesen, der mich an ihr besonders beeindruckt hat. Ihr fast lebenslanges Suchen. Ihre Sehnsucht nach mehr. Denn die erlebe ich manchmal auch. Vielleicht ist Glauben ja vor allem ein Suchen. Kein Auswendigkönnen von Katechismussätzen, kein kritikloses Herbeten von vermeintlich ewigen Wahrheiten. Stattdessen Suchen. Mit einer ungestillten Sehnsucht nach mehr. Nach etwas, das über mein Alltagsleben hinausreicht, das ihm Sinn gibt. Edith Stein selbst hat einmal so formuliert: „Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde. Gott ist die Wahrheit. Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.“

Morgen, am 9. August, ist ihr Gedenktag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33708
weiterlesen...