SWR3 Gedanken

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22MAI2021
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Angela strahlt: „Die neue Praktikantin ist ein echter Gewinn. Sie ist tiefbegabt. Das ist soo wohltuend.“

Ich starre sie verblüfft an. Tiefbegabt? Das kenne ich aus Steinhöfels Buch „Rico, Oscar und die Tieferschatten“. Da ist Rico ein 10-jähriger Junge, der sehr langsam denkt und begreift. Mit seinem hochbegabten Freund Oscar gibt er jedoch ein unschlagbares Team ab und gemeinsam entdecken sie ein Geheimnis.

Aber das ist ein Kinderbuch. Angela dagegen leitet eine Grundschule.
Weshalb sie da von tiefbegabten Praktikantinnen begeistert ist, muss sie mir erklären.

Sie lacht erstmal, als ich sie frage. Dann erzählt sie mir, dass diese Praktikantin, nennen wir sie Lissy, sich den Kindern so vollkommen vorurteilsfrei nähert. „Sie hört ihnen zu und unterbricht sie nicht. Weil sie selbst eine Weile braucht, um das Gehörte zu verarbeiten“, sagt Angela. „Lissy will den Kindern nicht unbedingt etwas beibringen, sondern eher selber noch was von ihnen lernen. Und die Kinder lieben das. Gerade die schwächeren Schüler_innen blühen bei ihr auf. Sie bemühen sich, Lissy was beizubringen. Und Lissy freut sich mit ihnen über jeden Erfolg.“

Ich bin skeptisch: „Aber sie muss doch auch mal zeigen, wie man richtig rechnet oder schreibt?“
„Ja“, sagt Angela, „aber weil sie selbst lange gebraucht hat, um es zu verstehen, ist sie unendlich geduldig, wenn es ums Beibringen geht. Niemand fühlt sich bei ihr als Schlusslicht.“

Kann man da überhaupt von Begabung sprechen? Ist das eine Gabe?
„Klar“, sagt Angela, „langsam sein ist eine Gabe. Erst recht in dieser schnellen Zeit. Schnell sein hilft dabei, Leistung zu bringen. Aber langsam sein hilft dabei, den Menschen zu entdecken. Und am Ende hat sowieso Theodor Fontane recht: ‚Gott lässt keinen leer ausgehen‘.

Ob musikalisch, sportlich, empfindsam, hochbegabt oder eben tiefbegabt. Wir haben alle eine Gabe, mindestens eine!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33153
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