SWR2 Wort zum Tag

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24DEZ2020
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Heute, an Heiligabend, habe ich ein persönliches Ritual. Bevor ich mit der Familie feiere, versuche ich eine Zeit allein zu sein. Ich mache einen Spaziergang und höre dabei Musik. Keine Weihnachtsmusik, sondern Schuberts „Winterreise“: Ein Wanderer beschreibt seine Reise von einem Ort zum nächsten. Es ist eine Reise, wie sie im 19. Jh. viele Handwerker unternommen haben. Sie sind von Ort zu Ort gezogen und haben ihre Dienste angeboten. In den Liedern der „Winterreise“ wird beschrieben, wie der Wanderer als Fremder an einem Ort ankommt, sich verliebt, dann weiterzieht. Dieses „immer Weiter“ fällt ihm schwer, er findet keinen Ort, an dem er ankommt und geborgen ist. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Vor allem im Winter wird diese Härte deutlich. Spätestens, wenn am Ende von einem Totenacker als Ziel der Reise die Rede ist, wird klar, dass es bei dieser Wanderung um den Lebensweg des Menschen überhaupt geht. Der Mensch bleibt immer ein Fremder.

Ich höre das gerne am Tag des Heiligabends, weil ich mir damit bewusst mache, dass das für mein Leben auch gilt. Ich mag mich nicht durch die schöne Stimmung an diesem Abend darüber hinwegtäuschen lassen, dass das Leben diese andere Seite hat. Ich bin nun mal nur eine begrenzte Zeit auf dieser Erde. Und auch wenn ich eine Wohnung habe und zu einer Familie gehöre, eines Tages muss ich sie zurücklassen, wenn ich sterbe. Ich bleibe in letzter Konsequenz heimatlos wie der Wanderer bei Schubert. Wer an Weihnachten alleine feiern muss oder wer heute im Krankenhaus arbeitet und sich nach der Geborgenheit in der Familie sehnt, wird dieses Gefühl gut kennen.

Für mich ist aber genau das der Anfang von Weihnachten. Es zeigt mir, wie erlösungsbedürftig ich bin. (Ich decke so zwar einen wunden Punkt in mir auf, aber dieser Punkt ist der Ort, an dem meine Erlösung beginnt.) An Weihnachten wird Jesus geboren. Die Bibel beschreibt ihn schon von Geburt an als heimatlos. Heimatlos auf dieser Erde, weil er seine Heimat im Himmel hat. Und diese himmlische Heimat macht er mit seinen Ideen auch für mich und für alle Menschen zugänglich. Nicht als einen irdischen Ort, an den ich gehen kann. Die himmlische Heimat beginnt dort, wo ich an meine Grenzen stoße; wo ich Fehler mache, wo ich als Mensch zerbrechlich und sterblich bin. Wo ich mein Leben nicht unter Kontrolle habe und mir selbst fremd bin.

Jesus wird als ein zerbrechlicher und sterblicher Mensch geboren. Und schon am Beginn seines Lebens ist klar, dass Gott selbst dann nahe ist, wenn alles fremd ist und ich die Welt nicht mehr verstehe. Diese Fremde ist der Ort, an dem heute die Engel singen: „Ehre sei Gott in der Höhe“.

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