SWR2 Wort zum Tag

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17SEP2020
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Journalisten haben Mahatma Gandhi einmal gefragt, was er von der westlichen Zivilisation halte. Gandhi hat geantwortet, das sei eine gute Idee.

Ich habe diese Anekdote schon öfter gelesen und sie bringt mich immer wieder zum Schmunzeln, weil sie so entlarvend ist. Ich neige nämlich auch manchmal dazu, diese westliche Sichtweise anzunehmen, nach der die guten und fortschrittlichen Ideen für die Welt allesamt hier bei uns entwickelt wurden. Die anderen Kulturen sollten sich demnach an uns orientieren, damit es ihnen besser geht: technisch, wirtschaftlich und sozial. Immerhin gehören ja auch Errungenschaften wie Menschenrechte, die Entwicklung von demokratischen Regierungsformen und Medikamenten wie Penicillin zu den Vorteilen, die den Menschen auf der ganzen Welt geholfen haben. Ich finde es aber arrogant zu denken, dass unsere Kultur deshalb den anderen überlegen ist. Der technische Fortschritt, den wir hervorgebracht haben, hat immer auch dazu geführt, dass unsere Kriege grausamer wurden. Auch die beiden Weltkriege sind aus unserer sogenannten westlichen Zivilisation hervorgegangen. 

Mahatma Gandhi hat schon früh über den Tellerrand seiner Kultur geschaut. Für seine Lehre des gewaltfreien Widerstands hat er sich nicht nur an seiner Religion, sondern auch an der Bergpredigt des Neuen Testaments orientiert.  Er kennt die Vor- und Nachteile seiner Kultur und der anderswo.  Wenn er den Journalisten sagt, die Zivilisation des Westens sei eine gute Idee, bringt er bescheiden und mit Humor ihre überhebliche Haltung auf den Punkt. Und er hat Recht. Besonders als ein Mensch der westlichen Kultur will ich nie aufhören, an der Zivilisation unserer Gesellschaft zu arbeiten. Das bedeutet aber gerade nicht, dass ich meine Kultur über die anderen Kulturen stelle und sie ihnen überstülpe. Ich sehe die Errungenschaften unserer Kultur und ich will das Gute der anderen Kulturen kennen lernen und aufgreifen. Ich begegne jeden Tag in meiner Stadt Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Zur Zeit fallen mir oft Menschen aus asiatischen Ländern auf. Ich weiß nicht wirklich viel von ihrer Zivilisation und ich muss nicht alles gut finden, was bei ihnen anders ist. Aber wenn ich genauer hinschaue, sehe ich bei ihnen viele Menschen, die nicht nur auf ihr persönliches Glück achten. Wo ich zuerst meine persönliche Entfaltung sehe, denken sie zuerst an die Gemeinschaft. Davon will ich mir gerne eine Scheibe abschneiden. Denn es passt ja auch zu meiner westlichen, oft noch christlich geprägten Kultur, wenn ich die anderen nicht durch eine Konkurrenz ausstechen will, sondern im Blick habe, dass alle Menschen am Guten teilhaben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31706
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