SWR4 Sonntagsgedanken

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16AUG2020
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Wenn ich Leute frage: Was ist für dich das Wichtigste, was Jesus gesagt hat? – dann kriege ich oft zur Antwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. – Deshalb heißt es ja auch christliche Nächstenliebe. – Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Das fasst alles zusammen. Das ist Jesus.

Dabei hat sich Jesus diese Worte gar nicht selbst ausgedacht. Er hat sie aber von klein auf gelernt. Sie stehen im Alten Testament, wie Christen es heute nennen. Für Jesus war es einfach: die Bibel. Die jüdische Bibel. Das, womit er als Jude groß geworden ist.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Das steht in der Bibel zwischen einer Unmenge von anderen Geboten und Vorschriften. Es gibt dort nicht nur die Zehn Gebote – es gibt insgesamt 613! Die fünf Bücher Mose sind voll davon – und von den Geschichten, wie Menschen mit Gottes Geboten leben. Juden nennen diese fünf Bücher die Thora. Das heißt auf Deutsch so viel wie: Weisung. Eine Anweisung zum guten Leben. Ich finde: Da ist die Nächstenliebe schon mal ein guter Anfang!

Vielleicht kennen Sie Bilder von einer Thorarolle, vielleicht haben Sie auch schon mal selbst eine gesehen. So eine Rolle ist sehr groß. Wenn man sie nach und nach aufrollt, dann kann man die ganzen fünf Bücher der Thora darin lesen. Juden tun das im Gottesdienst in der Synagoge. Jeden Schabbat ein Stück. Bis sie durch sind. Dann fangen sie wieder von vorne an.

So wichtig sind ihnen diese Regeln für ein gutes Leben. Und wichtig sind sie ja auch für Christen. Deshalb denken viele, dass Jesus dieses Gebot von der Nächstenliebe erfunden hat. Aber egal, ob Juden, Christen oder Muslime, ob religiös oder nicht religiös – mit dieser Regel können wir doch eigentlich alle gut leben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

„Wie dich selbst“: das kann man auch anders aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen. Viele jüdische Übersetzer schreiben: „er ist wie du“. Das heißt: dein Nächster ist einfach Mensch, genau wie du. Er ist dein Mitmensch, egal, was er sonst noch ist, egal, was er tut und was er leistet. Gott hat euch beide gewollt und gemacht. Das, wozu die Thora und Jesus uns aufrufen, ist also einfach: Mitmenschlichkeit.

Ich glaube, davon brauchen wir auch in unserem Land noch sehr viel mehr. Immer wieder werden Menschen danach eingeteilt und beurteilt, woher sie kommen. Oder woher ihre Eltern oder Großeltern einmal gekommen sind. Ob sie helle oder dunkle Haut haben. Ob sie Namen wie Paul und Lisa haben – oder Namen wie Mahmoud und Leyla. Oder ob sie Juden sind.

Antisemitismus gibt es in unserem modernen toleranten Land immer noch – von rechts, von links und von Islamisten. Und Menschen mit anderer Hautfarbe werden anders behandelt. Wie können wir das ändern, wir alle?

 

Viele sagen: Man muss ja nicht erst anders aussehen oder anders heißen als die Mehrheit, um anders behandelt zu werden.

Ja, im Grunde reicht es schon, dass man nicht so gut ausgebildet ist oder dass man nicht in einem besseren Viertel aufgewachsen ist. Auf der einen Seite gibt es die Jungen, Schönen, Klugen, Wohlhabenden. Auf die gucken alle. Auf die achten alle. Und dann gibt es die auf der anderen Seite. Das sind wahrscheinlich sehr viel mehr. Aber irgendwie scheinen die oft nicht so wichtig.

Da sind alte Menschen, die einfach nicht mehr mithalten können. Aber auch junge Menschen, die noch nie mithalten konnten. Jugendliche, die man mehr herumgestoßen als geliebt hat. Wenn jemand merkt, dass er nicht besonders geliebt wird, wie soll er sich selbst lieben? Und wie dann die anderen – auch die, die ihm vielleicht Mühe machen?

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: Es wäre prima, wenn das die Grundregel für alle wäre. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Aber trotzdem kenne ich sehr viele, die sich an diese Regel halten. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – denn er ist wie du. Es gibt so viele, die sehen sich selbst in einem alten und verwirrten Menschen und pflegen und versorgen ihn. Und es gibt viele, die sehen sich selbst in schwierigen Jugendlichen, in Obdachlosen, in Flüchtlingen, in Alleinerziehenden, in Menschen mit einer Behinderung. Sie wissen: das ist mein Mitmensch. Er ist wie ich. Oft tun sie das ganz still und ohne dass es groß beachtet wird. Aber die, für die sie es tun, die achten darauf. Und lernen, dass Nächstenliebe etwas Wichtiges ist.

Was mit den anderen geschieht, das geht uns einfach alle an. Denn wir alle sind ja auch andere – eben für die anderen. Wir alle brauchen Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Nächstenliebe. Wie viele Unterschiede es auch gibt – alle Menschen sind gleich viel wert.

Gut, ich gebe zu: Ich schaffe das selbst auch nicht immer, mit der Nächstenliebe. Ich bin kein Heiliger. Aber es gibt so viele kleine Schritte, die ich tun kann. Das fängt doch schon mit einem Lächeln und einem freundlichen Wort an – auf der Straße, an der Supermarktkasse. Das kann doch jeder von uns! Und das braucht ja auch jeder von uns. Besonders wenn es ihm gerade selbst nicht so gut geht.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, denn er ist wie du. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31256
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