SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

14JUN2020
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Wie stark eine Gesellschaft ist erweist sich daran, wie sie mit den Schwachen umgeht. Ein starker Gedanke ist das. Er steht sinngemäß so am Anfang der Schweizer Verfassung. Aber dazu braucht es auch Starke, die sich der Schwachen annehmen. Die sich um sie sorgen, auf sie achtgeben, sie behüten. Die Bibel hat dafür ein Bild geprägt. Das vom Hirten, der sich um seine Schafe sorgt. Es ist ein Bild, das irgendwie Ruhe und Frieden ausstrahlt. Dass mir im besten Fall eine Ahnung davon gibt was es heißen kann, behütet und beschützt zu sein. Wer am heutigen Sonntagmorgen einen katholischen Gottesdienst besucht, dem wird es begegnen. In dem Text, der dort gelesen wird. Jesus, so heißt es da, habe Mitleid empfunden mit den vielen Menschen, die vor ihm saßen. Müde und erschöpft seien sie gewesen, wie „Schafe, die keinen Hirten haben.“

Nun, müde und erschöpft, das kenne ich gut. Am Ende einer anstrengenden Woche geht mir das oft so. Und dennoch kann ich mich in diesem Bild nur schwer wiederfinden. Weil ich nun mal kein Schaf bin und auch keines sein will. Und weil ich mir, wie viele Menschen heute, von einem Hirten auch nichts sagen, vorschreiben, diktieren lassen möchte. Ich kann selber denken und entscheiden, was gut und richtig für mich ist. Ich will und brauche keinen Aufpasser und schon gar keinen, der mir vorschreibt, wo es lang gehen soll. Da hängt das Bild für mich dann einfach schief.

Dass die Kirche ihre Amtsträger dann auch noch als Hirten und Oberhirten bezeichnet hat macht die Sache nicht besser. Viel zu oft sind Menschen von diesen Hirten belehrt und mit Strafen bedroht worden. Viel zu oft wurde ihnen gesagt, was sie tun sollen und unterlassen müssen. Und viel zu oft glaubten diese Hirten, es besser zu wissen. Nämlich wie die anderen zu leben und zu lieben haben. Und sie haben sich dabei auf Jesus berufen. Schließlich hatte der doch so oft von Hirten und von Schafen gesprochen. Hatte seine Apostel losgeschickt, damit sie die vermeintlich vom Weg abgedrifteten Schafe zurück auf den Pfad der Tugend bringen.

Ist es also ein zwar starkes aber letztlich schiefes Bild, das mit den Schafen und den Hirten? Allen Verirrungen und allem schlimmen Machtmissbrauch zum Trotz, missen möchte ich es nicht:  Denn das uralte Bild der Herde, die von einem Hirten umsorgt und geleitet wird, berührt mich immer noch. Bis heute. Und auch wenn ich ein selbstbestimmter Mensch bin gibt es ja trotzdem Momente, in denen ich nicht weiterweiß. In denen ich mir nichts sehnlicher als Geborgenheit und eine tröstende Hand wünsche. Von einem Menschen, der mich versteht. Der mir etwas Ruhe schenkt und mich vielleicht auch mal in seine Arme nimmt. Einen Hirten auf Zeit. 

MUSIK 

Um das Bild vom Hirten und seinen Schafen und wie es auf uns wirkt, darum geht’s heute Morgen in den Sonntagsgedanken. 

Wenn Jesus vom Hirten und seiner Herde spricht, dann hat er dabei meistens Gott im Blick. Gott als der gute Hirte, dem jedes einzelne Schaf so wichtig ist, dass er auch dem letzten Verlorenen noch nachgeht. Der die Schwachen und Verletzlichen auf seinen Armen trägt um sie zu schützen. Auch das sind ja Bilder, schön und berührend. Aber leider so oft auch weit weg von den täglichen Erfahrungen, die Menschen untereinander machen. Die schwarzen Menschen etwa, die in den USA jetzt zu Hunderttausenden auf die Straßen gehen. Voll von Wut, weil sie viel zu oft erniedrigt und missachtet werden. Oder der Mann, der mir öfter im Bahnhof auffällt. Der immer den Müll nach Pfandflaschen durchwühlt, weil er das bisschen Pfandgeld zum Überleben braucht. Oder die alte Frau, die ein paar Straßen weiter wohnt. Die meiste Zeit des Tages sitzt sie vereinsamt in ihrer kleinen Wohnung. Besonders jetzt, in Coronazeiten.

Wenn das Bild vom Hirten, der sich um die Schafe kümmert, mehr als nur idyllischer Kitsch sein soll, dann muss es auch erfahren werden. Im prallen Leben, im Alltag. So wie bei jener städtischen Sozialarbeiterin, aus deren Berufsalltag die folgende Geschichte stammt.  Seit langem kümmert sie sich um einen alten Mann, dessen Leben völlig aus der Bahn geraten ist. Wiederkehrende Alkoholexzesse. Die kleine Wohnung total vermüllt. Genug Geld hatte er nie und wenn doch mal etwas da ist, ist es auch gleich wieder weg. Und immer wenn es mal so aussah, dass er endlich die Kurve gekriegt hat, kam bald der nächste Absturz. Mit Alkohol, Mietrückständen und dem drohenden Rauswurf aus der Wohnung. Sich Hilfe zu holen schafft er nicht. Dazu fehlt ihm Kraft und Antrieb. Schon ein Gang zum Amt überfordert ihn. Ein aussichtsloser Fall. Eigentlich. Wenn da nicht diese Sozialarbeiterin wäre, die ihm immer wieder auf die Beine hilft. Die die Anträge auf Sozialhilfe und Wohngeld für ihn ausfüllt. Ein Unternehmen beauftragt, das seine Wohnung entrümpelt. „Sie hat mir das Leben gerettet“, sagt er fast liebevoll über sie. Es ist wohl was dran. Eine moderne Hirtin auf Zeit.

Hirt sein oder Hirtin. Und darin ganz unspektakulär das leben, was schon Jesus mit diesem Bild gemeint hat. Im Prinzip kann das jede und jeder von uns.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31114
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