SWR2 Wort zum Tag

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09MAI2020
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Es war etwas Sonderbares, das mir da auf der Wiese im Park aufgefallen war. Beim Näherkommen habe ich festgestellt: Tatsächlich! Das war ein Grabstein! Darauf stand in großen Buchstaben: „I’m still alive“. Ich bin noch am Leben!

Später erfuhr ich, ein Künstler hatte den Grabstein im Park aufgestellt. Seine Botschaft, denke ich mir, könnte so lauten: „Du, der du vorüber gehst, mache dir klar, dass Du am Leben bist! Und - was das praktisch heißt, am Leben zu sein!“

Ein Kunstobjekt, das offensichtlich anstiften will zu einer Übung in Lebenskunst. Ich muss sagen, ich finde es gelungen. Dass da - als Symbol für die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens - ein Grabstein steht, der mich die Kostbarkeit der Gegenwart, des Augenblicks, spüren lässt. Und mir sagt: wie gut ist das, wie schön, dass du da bist!

Denn, frage ich mich, bin ich mir dieser Tatsache tatsächlich immer bewusst? Was bedeutet mir das Wunder, jeden Morgen neu die Augen aufzuschlagen? Zu atmen, mich zu spüren? Einfach da zu sein inmitten von all dem anderen, das um mich herum sonst noch da ist?

Der Religionsphilosoph Ingolf Dalferth hat von der Tiefenpassivität unseres Lebens gesprochen. Tiefenpassivität meint: mein Leben besteht viel mehr aus dem, was mir geschieht. Als aus dem, was ich selber veranstalte.

Ich werde geboren. Schon dazu trage ich nichts bei. Ich komme in eine Kultur hinein, in eine Sprache, eine Familie, die mich prägen. Mir werden Fenster geöffnet, durch die ich sehen, Türen aufgemacht, durch die ich gehen kann.

Tiefenpassivität, schreibt Dalferth, heißt: „dass wir da sind, obwohl wir auch nicht hätten da sein können; dass wir nur leben können, weil uns Möglichkeiten zugespielt werden, über die wir nicht verfügen.“

Der Grabstein als Denkmal, sagt es mir: vergiss nie, wie kostbar es ist, dass Du am Leben bist! Darum öffne deine Sinne für das, was dir heute geschieht und zugespielt wird! Auch für das, was Dir vielleicht zugemutet wird.

Ja, zuweilen brauche ich die Erinnerung daran. Wenn mir aus Unachtsamkeit das kostbare Geschenk Leben wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. Wenn ich Gefahr laufe, das Staunen, zu verlieren.

Dann ist so ein Impuls gut: „I’m still alive“. Ich bin am Leben! Was für ein Geschenk ist das: dass ich - jeden Morgen neu - die Kraft spüren kann, die mich ins Leben gebracht hat. Und mich durchs Leben trägt.

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