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SWR2 Wort zum Tag

24FEB2021
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Manche Dinge im Leben kehren nach einem Jahr einfach wieder. Und sind dann doch anders als beim ersten Mal. Mit einem Kalender geht es mir derzeit so. Seit Jahren gib es dafür einen festen Platz. Normalerweise hängt da jedes Jahr ein neuer. Dieses Mal gab‘s irgendwie keine Gelegenheit, einen neuen zu kaufen. Stattdessen blättern wir den vom Vorjahr eben zum zweiten Mal um.

Die schöne Erfahrung ist: Die Bilder sind auch im zweiten Jahr lohnend. Und manches Detail sehe ich beim zweiten Blick noch einmal ganz anders.

Der zweite Blick auf die alten Bilder erinnert mich in diesen Tagen an eine andere, nicht so erfreuliche Wiederholung. Wie der Kalender geht auch die Pandemie in ihr zweites Jahr. Gerade in diesen Tagen geht meine Erinnerung häufig an das, was sich vor einem Jahr abgespielt hat. Das erste abgesagte Fest. Die ersten Toten in den Kliniken.

Das Virus ist nach wie vor nicht unter Kontrolle. Doch der diesjährige, der zweite Blick ist ein anderer – obwohl es dieselbe Geschichte ist. Nicht mehr die vage Hoffnung, die Pandemie möge irgendwie an ihr Ende kommen. Vielmehr die konkrete Hoffnung auf den Erfolg des Lockdowns und dann auch der Impfungen. Nicht mehr die bange Frage, ob denn Händewaschen und etwas Abstand ausreichen. Vielmehr ein Jahr voller Erfahrungen mit dem Verzicht auf vieles Vertraute. An Begegnungen denke ich, die ich vermisse. An abgesagte Urlaube. An Geburtstage, die nicht gefeiert werden konnten. Gottesdienste, die nur digital gefeiert werden konnten. Ich denke auch vertraute Menschen, die plötzlich „positiv“ gewesen sind. Ja, ich denke auch an Menschen, die Covid nicht überlebt haben. Jeden Abend zünde ich für sie und die vielen anderen eine Kerze an.

Geblieben ist für mich - trotz allem – die Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht. Und dass in nicht allzuferner Zukunft doch auch wieder andere Tage kommen. Ein Satz aus dem Buch des Propheten Jeremia fällt mir dazu ein: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe“, lässt Gott da den Propheten wissen. Und der Satz geht weiter: „Es sind Gedanken des Friedens und nicht des Leides. Ich will, dass Ihr Zukunft und Hoffnung habt!“ (Jeremia 29,11)

Zukunft und Hoffnung! Daran möchte ich denken, wenn ich die alten Kalenderblätter umblättere. Und spüren, dass sie mir helfen, ganz fest auf eine neue Zeit zu hoffen.

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SWR2 Wort zum Tag

23FEB2021
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Mit vielen Veränderungen der letzten Monate komme ich sehr gut zurecht. Eine Situation gibt es allerdings, die fordert mich jedes Mal neu heraus. Ich treffe auf Menschen, einzelne oder mehrere – und ich weiß nicht, wie ich sie begrüßen soll. Natürlich, ich kann mit dem Kopf nicken. Ich kann mit den Augen signalisieren: Ich nehme dich wahr. Aber schon ein einfacher Handschlag oder gar eine Umarmung, das geht jetzt schon länger nicht mehr.

Gut, es gibt Alternativen. Der Ellbogencheck – er ist mir meistens doch etwas zu burschikos. Die leichte Verbeugung mit zusammengelegten, nach oben gerichteten Handflächen – das ist für mich eine eher ungewohnte, manchmal auch unbeholfene Geste.

Mir fehlt dieses vertraute Ritual. Eine Begrüßung vermittelt auch klare und wichtigen Botschaften. „Ich nutze meine Hand nicht als Waffe, sondern als Brücke zu deinem Herzen. Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe vor, mit dir etwas gemeinsam zu unternehmen.“ Beim Grüßen gehe ich mit einem anderen Menschen eine Verbindung ein. Wenn wir uns die Hand geben. Wenn wir uns umarmen. Da spüren wir einander.

Jede Gemeinschaft entwickelt ihre eigenen Rituale, um zum Ausdruck zu bringen: Wir gehören zusammen. Die Art, wie Menschen einander begrüßen, gehört dazu. Die Christinnen und Christen aus der Anfangszeit der Kirche brachten mit einem sehr innigen Zeichen zum Ausdruck, dass sie zusammengehören. Das wissen wir aus einem Brief des Apostels Paulus. „Grüßt einander mit dem heiligen Kuss!“ schreibt der in einem seiner Briefe nach Korinth. An so etwas wie den heiligen Kuss oder an Wangenküsschen links und rechts ist derzeit überhaupt nicht zu denken. Sich zu begrüßen – das geht im Moment nur mit Abstand. Aber uns bleibt die Kraft der Worte. Auch Worte stiften Nähe. So wie beim „Sei gegrüßt, Maria!!“, mit dem der Engel Gabriel der Maria begegnet. Oder das „Friede sei mit euch!“, mit dem der Auferstandene im Kreise seiner Jünger erscheint.

Meine Worte sind dabei nicht auf das sehr formelle „Guten Tag“ oder das saloppe „Hallo“ begrenzt. Warum nicht auch: „Schön, dass du da bist!“ oder: „Ich freu mich, Dich zu sehen!“ Vielleicht auch wieder einmal ein „Grüß Gott!“ zu Beginn einer Begegnung. Und am Ende der Abschiedsgruß: „Behüt‘ dich Gott!“ Damit kann ich in diesen Zeiten kaum daneben liegen.

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SWR2 Wort zum Tag

22FEB2021
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Eng ist er derzeit – der Spielraum in meinem Leben. Vieles, was nicht geht. Vieles, was ich vermisse. Zuallererst viele Menschen, mit denen ich mich derzeit nicht treffen kann.

Eng war der Spielraum auch für Martin Luther geworden. 1522 war das. Ein Jahr lang war vieles nicht mehr gegangen. Der Landesherr hatte ihn versteckt. Auf der Wartburg. Da weitet Luther seinen Spielraum. Er musste ihn weiten. Wenn er den Blick nach Wittenberg gerichtet hat.

Dort drohte die Reformation aus den Fugen zu geraten. Einige Heißsporne unter den Reformwilligen schossen dort gewaltig übers Ziel hinaus. Und gefährdeten so den Erfolg der Reformbewegung. Da kehrt Martin Luther nach Wittenberg zurück. Es gelingt ihm, den Weg der Veränderungen wieder in ordentliche Bahnen zu lenken. Durch acht Predigen. Jeden Tag eine. „Ja, predigen will ich“, sagt er. „Aber niemanden mit Gewalt zwingen!“ Luther vertraut darauf, dass Worte Wirkung entfalten. Besser noch: Dass Gott sie Wirkung entfalten lässt. Derweil wollte er mit seinen Freuden ein gutes „wittenbergisch Bier“ trinken.

Davon spricht er in seiner Predigt am Montag nach dem Sonntag Invocavit. Der Montag nach dem Sonntag Invocavit ist heute auch wieder. Nur eben 499 Jahre später. Der Name des gestrigen Sonntags - Invocavit - ist der lateinischen Übersetzung eines Psalmverses entnommen. „Der Mensch hat gerufen“, heißt es da. „Und ich will ihn erhören.“ (Psalm 91,15) Es lohnt sich also, auf Gott zu setzen. Um Spielraum im Denken und Handeln zurückgewinnen.

Auf das gute „wittenbergisch Bier“ würde Luther heute womöglich verzichten. Und sich den unzähligen Menschen anschließen, die in den Wochen bis Ostern bei der Aktion „Sieben Wochen ohne“ mitmachen. „Spielraum!“ So lautet ihr Motto in diesem Jahr. Wie Luther damals brauche ich heute Spielraum. Auch wenn die Situation eine ganz andere ist. Spielraum für Gottes Wirken. Aber zugleich auch Spielraum für mich selber. Den kann ich finden, wenn ich für eine begrenzte Zeit auf etwas verzichte. Das ist in diesem Jahr noch einmal anders als sonst. Weil im Lockdown ohnehin Verzicht angesagt ist. Apropos Verzichten: Das könnte ich doch auch üben bei einigen meiner Klagen, wie schlimm die Verhältnisse derzeit doch sind. Das verschafft mir Spielraum. So wie sich Martin Luther das schon vor 499 Jahren vorgestellt hat.

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SWR2 Wort zum Tag

16DEZ2020
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„Ist Weihnachten noch zu retten?“ hat ein Nachrichtenmagazin getitelt. Ich habe mich gefragt: Was heißt das: Weihnachten retten? Wer oder was soll da gerettet werden? Einiges fällt mir da schon ein. Die familiären Zusammenkünfte unterm Christbaum. Die wird es dieses Jahr eher nur im kleineren Kreis geben. Die gewohnten Gottesdienste. Sie werden dieses Jahr anders sein. Kleiner. Im Freien. In ungewöhnlichen Formaten. Der Besuch bei den Eltern im Pflegeheim. Ob und wie das geht, wird erst sich zeigen.

Keine Frage: Dieses Jahr wird an Weihnachten einiges anders sein. Einiges wird mir fehlen, was so selbstverständlich zu diesem Fest dazugehört. Ich nehme wahr: Viele Menschen haben sich jetzt schon sehr Spannendes und sehr Kreatives einfallen lassen, um nicht auf alles verzichten zu müssen. Wenn es gelingt, es trotz allem irgendwie Weihnachten werden zu lassen, dann freut es mich. Manches Liebgewordene lässt sich retten – oder zumindest doch irgendwie möglich machen. Aber Weihnachten zu retten, das ist eigentlich noch einmal etwas anderes. Und so wie ich Weihnachten verstehe, muss ich Weihnachten gar nicht retten. Ja, kann es wahrscheinlich nicht einmal.

In der Geschichte der Weihnacht wird der Satz vom Retten genau umgekehrt.  Da heißt es: „Euch ist heute der Retter geboren!“ (Lukas 2,11) Das ist der Kernsatz der Botschaft der Engel, um die sich alles dreht. Weihnachten hat mit meiner Rettung zu tun. Da geht es darum, dass ich mit dem Leben zurechtkomme.

Weihnachten als Unterbrechung des derzeit so anderen, so schwierigen Alltags in dieser Zeit der Pandemie – das wünschen sich viele. Aus dem Leben zwischen Abstand und Masken einfach einmal auszusteigen. Das geht in diesem Jahr nicht. Aber ein Spaziergang zu zweit oder zu dritt. Ein handgeschriebener Brief als besonderes Geschenk. Vielleicht auch einmal einfach Musik hören und allein mein Lieblingsweihnachtslied singen. Das geht. Auch in diesem Jahr.

Etwas Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen, habe ich ja noch. Noch ist Advent. Ich sehne den Advent jedes Jahr herbei. In diesem Jahr noch mehr als sonst. Denn Weihnachten wird selten ganz einfach. Und genügend Menschen gehen eher mit gemischten Gefühlen auf die weihnachtlichen Tage zu. Noch bleibt mir genügend Zeit, mich darauf einzustellen. Noch sind es acht Tage. Zum Glück. Oder Gottseidank.

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SWR2 Wort zum Tag

15DEZ2020
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Seit ein paar Jahren wichteln wir in unserer Familie vor Weihnachten. Wichteln heißt: Per Los erhält jedes Familienmitglied den Namen einer Person, der sie an Weihnachten ein Geschenk zukommen lässt. Die Idee ist: Der oder die Beschenkte soll nicht erfahren, von wem das Geschenk stammt. Meistens ahnen die Beschenkten dann doch, irgendwie, wer dahinter steck. Aber von der ursprünglichen Idee her soll das eigentlich geheim bleiben. So wie sich ein Wichtel in der Welt der Märchen ja auch nicht zu erkennen gibt.

Für mich macht dieses Wichteln schön klar, worauf es beim weihnachtlichen Schenken ankommt. Im Normalfall schenken wir heute ja anders. Kinder schreiben einen Wunschzettel. Auch Erwachsene haben so ihre Wünsche, für deren Erfüllung das bevorstehende Fest der Weihnacht ein guter Anlass ist.

Ich finde, Schenken meint etwas anderes, nämlich jemandem mit etwas eine Freude zu machen. Mit etwas Überraschendem. Etwas Persönliches schenken, das die beschenkte Person gar nicht auf ihrer Rechnung hat. So wie beim Wichteln eben.

Im Advent warte ich darauf, dass für mich etwas Gutes passiert. Aber ich weiß im Voraus nicht schon ganz genau, was da auf mich zukommen könnte. Aber auch wenn ich die Geschichten um dieses Fest kenne, frage ich mich jedes Jahr neu: Was hat es mit diesem Kind denn wirklich auf sich? Mit den Engeln, die vom Frieden auf Erden singen? Mit den Hirten? Mit diesen geheimnisvollen Sterndeutern aus Babylon?

Ein Geschenk ist, was sie da plötzlich sehen. Sie wissen nicht genau von wem. Sehen den Himmel mit im Spiel. Spüren, dass Gott es hier irgendwie gut mit ihnen meint. Aber ganz genau wissen sie nicht, wie sie sich einen Reim darauf machen sollen. Deshalb ist der Advent so wichtig. Da stelle ich mich ein. Da richte ich mich aus – auf etwas, dessen erzählbare äußere Hülle ich zwar kenne. Aber von dem ich mir wünsche, dass es sich mir erschließt.

„Wenn ihr glaubt, dass euch etwas zukommt, dann werdet ihr das auch erleben.“ (Markus 11,24). Jesus hat das einmal gesagt. Und so wunderbar beschrieben worum es geht im Advent. Das Entscheidende im Leben muss ich gar nicht selber machen. Es fällt mir am Ende einfach in den Schoß. Wie der Maria.

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SWR2 Wort zum Tag

14DEZ2020
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Am gestrigen Sonntag war der Gedenktag der Lucia. In Schweden wird der richtig groß gefeiert. Da geht die Lucia durch die Häuser. Mit brennenden Kerzen auf dem Kopf. Lucia wollte nämlich die Hände frei habe, um Menschen das Allernötigste zum Leben zu bringen. Essen. Kleider. Die Menschen hatten sich aus Angst vor Verfolgung in Höhlen und unterirdischen Gängen versteckt. Im vierten Jahrhundert war das. In der Nähe von Syrakus. Auf Sizilien. Lucia wurde später selber zum Opfer von Verfolgung und am Ende hingerichtet.

Es wundert mich nicht, dass die Menschen in Schweden und überhaupt in Skandinavien der Lucia gedenken. Länder, in denen die Nächte im Winter viel länger sind als bei uns, sind für Lichterfeste besonders offen.

Weihnachten ist das Lichterfest des Jahres. Und schon jetzt, im im Advent spüre ich: Diese besondere Zeit rückt immer näher. Gerade in den dunkleren Tagen im Dezember bin ich dafür besonders empfänglich. In diesem Jahr spüre ich das noch viel stärker als sonst, irgendwie wie wenn sich die Vorfreude auf das Licht am Ende des Tunnels andeutet. Diese Erfahrung haben Menschen auch schon vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren gemacht. „Dem Volk, das im Finstern wandelt, wird ein großes Licht aufgehen!“ (Jesaja 9,2) Eine Zusage des Propheten Jesaja an seine Landsleute. Sie passt heute immer noch. Gerade jetzt im Advent. Auf dem Weg zum Fest der Weihnacht. Dem Fest der Geburt dieses Kindes, das später von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt!“ (Johannes 8,12) Wer empfänglich ist für dieses Licht, wird auch für andere zum Lichtspender. Wie Lucia.

Wie das gehen kann? Wenn ich abends durch unser Wohnviertel laufe, sehe ich in diesem Jahr so viele Lichter wie noch nie. Lichter tun offensichtlich gut. Und ich überlege: Wie kann ich anderen zum Licht werden? Gerade in diesen Tagen mache ich die Erfahrung: Ein Anruf, ohne konkreten Anlass, ganz überraschend, kann Wunder wirken. Als Signal: Du bist bei mir im Blick. Oder wie bei Lucia die Nachfrage: Braucht ihr etwas, was ich Euch vom Einlaufen mitbringen kann? Allein die Frage: Wie macht ihr das dieses Jahr an Weihnachten? - Sie rührt Menschen zu Tränen, weil sie nicht wissen, ob sie dieses Jahr alleine feiern werden. Das Vorbild der Lucia ist gerade in diesem Jahr gefragt.

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SWR2 Wort zum Tag

24OKT2020
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Ein weißer Schlitten – als Umrahmung angedeutet. Und darin ein Sammelsurium an Gegenständen: Kinderspielzeug. Eine Matratze. Büromaterial. Blumen. Elektrogeräte. Ich hab‘ so schnell gar nicht alles aufnehmen können, was da in den Bauch des Schlittens hineingestopft war.

 „Aufbewahrungsort der Erinnerungen“ hat der Künstler Walter Libuda diesen Objektkasten genannt. Er hat viele solcher Objektkästen gestaltet. Aber dieser eine hat sich in mein Gedächtnis besonders eingeprägt.  Dieser Schlitten, in dem vieles aufbewahrt wird, was ein Mensch auf seiner Lebensreise ansammelt und mitschleppt.

Interessant, dass es ein Schlitten ist. Vielleicht, weil ich den mit eigenen Kräften ziehen muss. Für mich bringt dieser Schlitten mit den Erinnerungen auch zum Ausdruck: Das alles geht in einem mäßigen Tempo vonstatten. Und es ist durchaus auch etwas romantisch. Dieser Schlitten der Erinnerungen ist ein bergender Ort. Keine Entsorgungsmüllabfuhr.

Ich habe mir dann schon überlegt: Wie wäre das, wenn ich unter meinen Erinnerungen auswählen könnte. Mitnehmen würde ich vor allem die Erinnerungen an Wegstrecken und an Ereignisse, bei denen ich etwas gelernt habe. In denen ich gereift bin. Beladen wird dieser Schlitten ja seit meiner Kindheit. Das Aufwachsen in meiner Herkunftsfamilie. Eltern. Geschwister. Schule. Beruf. Längst auch die eigene Familie. Freundschaften. Der ganze Wust von Veränderungen in meinem Leben. Auch wenn ich auswähle: Irgendwann wird es dann doch zu viel. Der Schlitten, so sorge ich mich, ist irgendwann überladen. Dagegen muss ich etwas tun.

Im Herausgehen aus der Ausstellung fällt mir dieser Satz des Paulus ein: „Prüft alles. Was für euch gut ist, das behaltet!“ (1. Thess. 5,21) Lebensweisheit steckt da drin. Und die Gewissheit, dass das auch geht. Darauf zu vertrauen, dass manche Erinnerung einfach verblasst. Oder dass die eine durch eine andere ersetzt wird. Erinnerungen gibt es auch, die kann ich einfach ablegen. Und loswerden. In einem guten Gespräch. Oder indem ich sie Gott vor die Füße lege. Oder besser noch: ans Herz. Anders, das wird mir mit einem Mal klar könnte ich gar nicht leben.

Am Ende gehe ich beflügelt davon. Ich schaffe es also, immer neu Platz zu schaffen im Aufbewahrungsort meiner Erinnerungen. Um befreit meinen Schlitten weiter durchs Leben zu ziehen.

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SWR2 Wort zum Tag

23OKT2020
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„Sie dürfen die Bilder gerne fotografieren!“ Selten, dass ich einen solchen Satz in einer Ausstellung zu lesen bekomme. Aber der Satz ging dann noch weiter: „Zwei Bilder sind davon ausgenommen!“ Was auch immer der Grund dafür war, urheberechtliche Überlegungen oder der besondere Wert gerade dieser beiden Bilder - ich habe jedenfalls festgestellt: Viele Besucher hatten es mit ihren Handys gerade auf diese beiden Bilder abgesehen. Und sie drückten auf den Auslöser, sobald die Aufsicht gerade nicht im Raum war.

Ich musste an die Schöpfungsgeschichte denken. „Von allen Bäumen dürft ihr essen“, sagt Gott da zu Adam und Eva. „Nur nicht von dem einen.“ Das hat die beiden nicht abgehalten, dieses Verbot zu übertreten. Das Spiel mit dem Verbot, der heimliche Grenzübertritt – sie üben einen Reiz aus. Ohne Frage. Und er verlockt auch dazu, mit dem Überschreiten der Grenzen einen kleinen Sieg über die Regeln zu feiern.

Wenn Grenzen festgelegt werden, ist dabei zunächst einmal die Absicht verbunden, jemanden zu schützen. Vor dem Verlust der rechtlichen Ansprüche, die jemand hat, wie beim Urheberrecht. Vor dem Verlust der Gesundheit. Im Fall vom Baum im Paradies auch vor der Gefahr, der Mensch könnte seine Möglichkeiten überschätzen. Grenzen leben davon, dass ich denjenigen, die sie definieren, einen Vorschuss an Vertrauen entgegenbringe. Und dass ich sie respektiere, auch wenn sie mir einmal nicht gleich einleuchten. Und mir in manchen Fällen eine andere Grenze lieber wäre.

Natürlich kann ich bei allen Grenzen nach deren Sinn fragen. Muss es manchmal sogar. Im Fall der beiden Bilder im Museum ist das ja sehr einfach. Da kann mir die Museumsaufsicht schnell den Hintergrund dieser Grenze erläutern. Bei Adam und Eva geht es da schon um etwas grundsätzlich Anderes. Da geht es darum, ob ich die Grenzen akzeptiere, die einfach mein Menschsein mit sich bringt. Ihr Grenzübertritt hatte für die beiden einschneidende Folgen. Sie werden aus dem Paradies vertrieben. Manchmal sind Grenzen eben geradezu heilsam. Und ihre Überschreitung hat Konsequenzen. Für die Gesundheit. Als Schutz vor Überforderung. Aus Rücksicht auf die Schwachen. Auch wenn ich um kritische Rückfragen nicht immer herumkomme. An meinem Umgang mit Grenzen zeigt sich jedenfalls jedes Mal, ob ich mutig und frei genug bin, recht zu entscheiden, was jetzt dran ist.

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SWR2 Wort zum Tag

22OKT2020
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Der Südwesten der Republik ist auch heute noch gerne ganz vorne. Wirtschaftlich. Kulturell. Furchtbar ganz vorne sein wollte er am 22. Oktober 1940. Heute vor 80 Jahren. Mitten in der Schreckensherrschaft der Nazis. Der Südwesten wollte als erste Region des Reichs judenfrei sein. In den frühen Morgenstunden polterten die Gestapo-Leute bei den Mitbürgern jüdischen Glaubens an die Tür. In Baden. In der Pfalz. Im Saarland. Bis heute kennen wir die Namen der Verschleppten. Paul Niedermann aus Karlsruhe. Margot Schwarzschild aus Kaiserslautern. Salomon Maier aus Kippenheim. Lotte Jordan aus Bruchsal. Sie stehen für die vielen anderen. Mehr als sechseinhalbtausend Menschen insgesamt. Viele wurden später von Gurs nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.

Es waren Frauen und Männer aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Es waren die Klassenkameraden der eigenen Kinder, die aus der Schule geholt wurden. Niemand konnte mehr wegsehen. Aber auch darin waren die Menschen dann ganz vorne.

All diese Menschen sind nicht vergessen. Gottseidank! Weil längst Jugendliche ganz vorne sind. Und das Gedenken wachhalten. Ein eindrückliches Beispiel: In Neckarzimmern bei Mosbach stehen inzwischen fast 140 Gedenksteine. Und immer noch kommen neue dazu. Jeder Stein erinnert an einen Ort in unserer Gegend, von dem aus jüdische Menschen nach Gurs deportiert worden sind. Junge Menschen haben diese Steine gestaltet. Ein identischer Stein steht dann auch in jedem der Orte selber.

Das große Vorbild aller Erinnerungsorte, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Sie verdankt ihren Namen einem Satz aus der Bibel. „Ich will ihnen ein Denkmal und einen Namen geben. Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.“ (Jesaja 56,5) Darin ganz vorne zu sein, das ist das, was uns heute bleibt. Den Ermordeten ein Denkmal und einen Namen geben. Und so die Erinnerung an sie wachhalten. Und die Ermahnung, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.

Das Engagement dieser Jugendlichen hilft, dass der Südwesten der Republik als Ort antisemitischer Einstellungen nicht auch noch ganz vorne ist. Keine Religion kann Anlass dafür sein, dass Menschen aussortiert werden. Schon gar nicht die, die längst meine Nachbarn sind. Ganz vorne möchte ich sein, dass diese Menschen ohne Angst leben können.

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SWR2 Wort zum Tag

15JUL2020
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Irgendwann wird ein Mensch seinen eintausendsten Geburtstag feiern können. Aubrey de Grey sagt das, ein britischer Wissenschaftler, der sich mit dem Prozess des Alterns beschäftigt. Sein Ziel ist es, die menschliche Lebensuhr erfolgreich zurückzudrehen.

Meine Erfahrung lehrt mich anderes. Menschliches Leben ist endlich. Schmerzlich muss ich das immer wieder zur Kenntnis nehmen. Im Blick auf Menschen, die mir lieb sind. Auch im Blick auf mein eigenes Leben.

Die Bibel berichtet von Menschen, deren Lebensdauer an die Zielvorgabe des britischen Wissenschaftlers heranreicht. 969 Jahre soll Methusalem alt geworden sein. Adam immerhin noch 930 Jahre. Auch wenn diese Angaben eher symbolischer Natur sind. Dass Menschen viel länger leben, als es ihnen möglich ist, dahinter verbirgt sich eine uralte Sehnsucht. Und es bringt mich schon zum Staunen, wenn ich lese, dass der Mensch, der vermutlich bisher am längsten gelebt hat, eine 1997 verstorbene Französin ist. Sie wurde 122 Jahre alt.

In den Psalmen findet sich ein Satz, der die Dauer menschlichen Lebens näher an unserer Realität beschreibt. „Unser Leben dauert 70 Jahre,“ heißt es da, „und wenn’s hochkommt 80 Jahre. Und was uns daran köstlich scheint, hat viel Mühe und Arbeit gekostet.“ (Psalm 90,10) Die meisten Menschen werden damals diese Lebensdauer nicht erreicht haben. Die 70 oder 80 Jahre beschreiben einen kühnen Wunsch. Oder eine ganz seltene Erfahrung.

Nicht um die Zahl gehts aber am Ende. Sondern darum, was das Leben in dieser Zeitspanne entscheidend ausmacht: Müh‘ und Arbeit. Ersparen lassen sie sich nicht. Aber in einem erträglichen Rahmen sollten sie bleiben. Dazu gehört es sicher, die Lebensverhältnisse zu verbessern. Die Güter dieser Welt gerecht zu verteilen. Dafür zu sorgen, dass Menschen genügend zu essen haben. Und Zugang zu sauberem Wasser. Zu medizinischer Versorgung. Und dass sie in Frieden leben können.

Dazu gehört aber am Ende auch, dass Menschen getröstet sterben können. Und Menschen in ihrer Nähe haben, die ihnen beistehen. Das haben uns die letzten Monate neu in Erinnerung gerufen. Leben und Sterben in Würde. Beides gehört zusammen. Es ist allemal Grund dankbar zu sein, wenn am Ende eines Menschenlebens möglich geworden ist, was in der Bibel über Hiob zu lesen ist. „Er starb alt und lebenssatt.“ (Hiob 42,17)

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