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04JUL2024
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Mein ältester Sohn geht jetzt schon stramm auf die Dreißig zu. Wir verstehen uns gut und reden gern miteinander über die unterschiedlichsten Themen. Vor kurzem kam mir im Gespräch mit ihm plötzlich der Gedanke, dass Jesus ja nur ein paar Jahre älter geworden ist als er. Anfang dreißig war der, als er zum Tod verurteilt worden ist. In der langen, mittlerweile zwei Jahrtausende überbrückenden christlichen Tradition sind die Geschichten, die Reden und Worte von Jesus zu zeitlosen Wahrheiten und universell gültigen Weisheiten geworden. Ursprünglich aber sind es die Erlebnisse, Diskussionsbeiträge und Ansichten eines gerade mal Dreißigjährigen, der vom Alter her mein Sohn gewesen sein könnte.

Mit 30, das merke ich jetzt deutlich, lebt man entschiedener als mit 56, hat kantig-klare Ansichten und ein gesundes Sendungsbewusstsein. Sofern man noch keine Familie gegründet hat, trägt man auch keine Verantwortung für Kinder. Das alles trifft auf Jesus zu. Er musste nicht für eine Familie sorgen. Deshalb konnte er ungebunden umherziehen und von der Hand in den Mund leben. Wer genug Wut im Bauch und keine Angst vor den Folgen hat, kann auch die Verkaufsstände von friedlichen Kleinhändlern umschmeißen und sie rüde anpöbeln. Ein klarer Fall von Sachbeschädigung und Beleidigung.

Eigentlich reagiere ich auf solche unkontrollierten Ausbrüche mit Empörung und Unverständnis. Wenn Jesus das macht, rege ich mich nicht weiter auf. Und was ist das zum Beispiel für eine Ansage aus seinem Mund: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert!“ Wenn mein Sohn mir mit einer solchen Parole käme, würde ich sofort versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Jesus hatte radikale Ansichten wie ein junger Mensch sie hat. Das find ich völlig in Ordnung. Manchmal frage ich mich aber, wie er wohl gelebt und was er gesagt hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, doppelt so alt zu werden und noch jede Menge Lebenserfahrung zu sammeln. Gäbe es dann auch eine Sammlung von altersweisen Sprüchen, so wie vom König Salomo? Von dem ist zum Beispiel der Satz überliefert: „Ein Geduldiger ist besser als ein Starker und wer sich selbst beherrscht besser als einer, der Städte einnimmt.“ Unvorstellbar, dass ein dreißigjähriger Jesus das gesagt hätte. Mit siebzig vielleicht. Aber wer weiß?

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03JUL2024
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Trotzphasen sind schrecklich. Jedenfalls, wenn man die Mutter eines betroffenen Kleinkinds ist. Erst neulich hab ich beim Einkaufen den Tobsuchtsanfall einer vielleicht Dreijährigen miterlebt. Die war total außer sich, hat geschrien und geheult und sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Ihre Mutter hat sich zwar in bewundernswerter Geduld geübt, war aber sichtlich mit den Nerven am Ende. Am liebsten hätte ich ihr einen Kaffee gebracht.

Wenn erwachsene Leute in eine Trotzphase kommen – dann ist das fast noch schlimmer. Erwachsene Sturköpfe sind mitunter genau so anstrengend wie Kinder. Wenn einer sich immer nur querstellt. Mit Beharrungskräften alles blockiert. Jede Veränderung als Gefahr betrachtet. So ein Trotzkopf steckt manchmal auch in mir. Dann bin ich schwer erziehbar, bockig, kontraproduktiv. Andererseits muss ich auch nicht alles hinnehmen, was scheinbar nicht zu ändern ist. Dann hat Trotz auch eine produktive Seite. Ich nenne sie die Trotzkraft. Denn schließlich hat jeder menschliche Fortschritt einmal mit Trotz angefangen. Mit Verweigerung. Mit dem Aufstampfen eines Fußes und dem stirnrunzelnden Gedanken: Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich nehme das jetzt nicht mehr länger hin! Ronja von Rönne erzählt in ihrem Buch über den Trotz die Geschichte von Adam und Eva im Paradies als wunderbare Trotzgeschichte. Eva pflückt den Apfel vom verbotenen Baum und beißt herzhaft hinein. Warum hat sie das getan, wenn ihr doch mindestens ein Paradies für immer offenstand? Ronja von Rönne meint: „Ein Initialmoment, ein Zufallsfunken. An einem jener unendlich vielen sonnigen Tage im Paradies blieb Adam brav, und eine Frau erschuf trotzig die Realität.“

Der Trotzkopf und die Trotzkraft: beide bringen uns weiter. Liegt die Kunst also im Unterscheiden, wann was dran sein könnte. In einem biblischen Psalm (73) finde ich beides: „Wenn mein Herz verbittert ist, dann bin ich so dumm wie ein Rindvieh und steh vor dir wie ein Ochse vor dem Berg. Und trotzdem, trotzdem bleibe ich immer bei dir, Gott. Du hast mich an die Hand genommen. Du führst mich nach deinem Plan. Und wenn mein Leben zu Ende geht und aller Trotz ein Ende hat, nimmst du mich auf in deine Herrlichkeit.“

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02JUL2024
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Eine junge Frau. Sie ist jetzt im vierten Monat. Ihr Bauch wölbt sich schon leicht. Bald werden es alle sehen können im Dorf; ihre Familie lebt dort seit Generationen. Hundert Prozent glücklich ist sie nicht mit dieser ungeplanten Schwangerschaft. Sie braucht Zeit für sich, Zeit zum Nachdenken; hat sich dafür ein besonderes Projekt einfallen lassen: Einen Pilgerweg. Ungefähr 100 Kilometer will sie schaffen. Allein unterwegs sein, mit dem wachsenden Leben in ihrem Bauch. Erst am Ende des Weges will sie sich dann auch beraten lassen. Wie der Zufall es will, ist eine ältere Cousine von ihr gerade ebenfalls schwanger. Sie kennen sich kaum, aber mit ihr will sie reden und sich austauschen. Maria, so heißt die junge Frau, hat ihr Kind schließlich bekommen. Einen Jungen. Wieviel der Besuch bei ihrer Cousine Elisabeth zu dieser Entscheidung beigetragen hat, wird in der Bibel nicht überliefert. Wohl aber, dass die beiden Frauen sich auf Anhieb gut verstanden haben. Drei Monate hat Maria schließlich bei Elisabeth verbracht. Der 2. Juli erinnert in der Kirche an ihre erste Begegnung.

Wer ungeplant schwanger wird, ist auch heute oft in einer belastenden Situation. Hat Angst vor der Reaktion des Partners oder vor den Eltern, Angst, alledem, was mit einem Kind auf einen zukommt, nicht gewachsen zu sein. In den seltensten Fällen können Frauen sich wie Maria für längere Zeit einfach aus dem Alltag ausklinken. Ganz im Gegenteil tickt die Uhr, die zu einer Entscheidung drängt. Und nicht jede hat eine weibliche Komplizin. Gerade habe ich von der Möglichkeit einer vertraulichen Geburt gelesen. Da werden Frauen begleitet, die sich in einer schwierigen Lebenssituation dafür entscheiden, ihr Kind zu bekommen und es zur Adoption freizugeben. Früher gab es dafür nur die anonymen Babyklappen, aber unsere Gesellschaft hat anscheinend dazu gelernt und verstanden, welche Schwierigkeiten mit dieser Anonymität verbunden sind. Mütter, die sich für eine vertrauliche Geburt entscheiden, können ihrem Kind einen Namen geben. Für die meisten ist es wichtig, die Schwangerschaft vor ihrem Umfeld geheim zu halten, aber nicht, dass das Kind später nichts über seine Mutter erfährt. Denn das ist bei einer vertraulichen Geburt alles möglich. Schön, dass es dafür Schwangerschaftskomplizinnen gibt.  

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01JUL2024
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Verfallene Häuser und Scheunen, ein Parkhausgerippe im Rohbau, vor Jahren abgestellte und sich selbst überlassene Autos, Zweiräder und Baumaschinen, alte Fabriken und stillgelegte Kraftwerke. In südlichen Nachbarländern sieht man das öfter mal am Straßenrand. Bei uns in Baden-Württemberg eher selten. Im „Musterländle“ mag man es lieber aufgeräumt.

Aber es gibt sie auch hier. Sogenannte „lost places“ – verlorene Orte, von Menschen aufgegebene, verlassene Gebäude, Anlagen oder auch Gegenstände. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie wegzuräumen oder abzutragen. Sie verfallen heimlich, still und leise vor sich hin.

Der in Esslingen geborene Fotograf Benjamin Seyfang liebt solche Orte, sucht sie immer wieder auf und hält seine Eindrücke in Bildern fest. Auch ich kann mich ihrem Charme nicht entziehen. Was ist so faszinierend an einem vom Moos fast zugewachsenen Fahrrad? Einem leeren Schwimmbecken oder – besonders berührend – einem Raum mit eingestürzter Decke, an dem nur noch ein schlichtes Holzkreuz an der Wand daran erinnert, dass hier einmal die Kapelle eines Seniorenheims gewesen ist?

Eins verstehe ich gleich: Es herrscht eine wunderbare Ruhe an diesen „verlorenen Orten“. Man sieht noch die Spuren ehemaligen Lebens, aber jetzt hat kein Mensch mehr seine Finger im Spiel. Vieles hat sich die Vegetation inzwischen zurückerobert. Mit Spinnennetzen, mit Efeu, Gestrüpp und Moos. Auch dieser Anblick hat etwas Tröstliches. Denn ich sehe eine Kraft am Werk, die uns Menschen mit unseren genialen Ideen, aber auch mit unserem zerstörerischen Eifer überdauern wird. Langsam und barmherzig ist sie am Werk. Irgendwie friedlich. Tausend Jahre sind ihr wie ein Tag. Nichts eilt mehr. Alles wird überwachsen, überwuchert, umarmt, umschlungen. Und dann gibt es da noch diesen liebevollen Blick, der das alles eingefangen hat und es nun auf mich wirken lässt.

„Ich bin gekommen, um zu suchen, was verloren ist.“ Das könnte als Motto im Vorwort dieser Bücher stehen. Ein Jesuswort. Ich weiß, er hat damit Menschen gemeint. Solche, die niemand eines Blickes gewürdigt hat. An denen andere vorbeigegangen sind, ohne sie zu bemerken. Lord oft the lost, der Herr der Verlorenen. Die Fotos all der lost places lehren mich einen neuen Blick auf Räume und auf Menschen.

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29JUN2024
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Ich habe so eine kleine Angewohnheit. Noch vor dem Frühstück, nach meinem Morgengebet, öffne ich immer mein Dachfenster, um ein paar Augenblicke nach draußen zu schauen. Dort sehe ich meist das satte Grün im Garten direkt vor meiner Wohnung und über die Tübinger Südstadt hinaus bis hin zur Schwäbischen Alb in der Ferne. Und über all dem den weiten, blauen Himmel.

Ich liebe dieses Grün, dieses Blau und diese Weite. Es erinnert mich an etwas, das ich vor vielen Jahren erzählt bekommen habe: Ich war mit einem Freund im Süden Mexikos unterwegs. Uns wurde gesagt, dass für die indigenen Menschen dort in ihrer Muttersprache Grün und Blau keine unterschiedlichen Farben sind, sondern nur Schattierungen, Abstufungen derselben Farbe. Und so blicken diese Menschen dort auch auf die Welt. Der blaue Himmel und die grüne Erde sind nicht getrennt. Das alles gehört zusammen. Es sind nur Schattierungen, Abstufungen. Nicht verschiedenen Dinge. Was für ein wunderbarer Gedanke. Nicht von dem auszugehen, was trennt, sondern von dem, was verbunden ist.

Diesen Gedanken finde ich auch in der biblischen Schöpfungsgeschichte wieder. Dort wird erzählt, wie am Anfang auf der Erde ein richtiges Tohuwabohu herrscht. Und Gott? Der krempelt die Hemdsärmel hoch und macht sich ans Werk. Ordnet alles. Gibt allen Dingen ihren Platz. Der Sonne, den Sternen, dem Himmel, der Erde. Ich lese diese Geschichte so, dass Gott die Dinge zwar aufteilt, aber sie bleiben untereinander verbunden. Sind nicht wirklich getrennt.

Mich fasziniert dieser Gedanke der Verbundenheit der ganzen Schöpfung. Auch auf jeden Menschen hin, der mir begegnet. Da ist der Punk, der schon durch seine Klamotten von mir und meiner Lebenswelt völlig getrennt zu sein scheint. Oder die Frau, die ich aus meiner früheren Gemeinde kenne. Die mich jedes Mal, wenn ich sie treffe, durch ihr vorlautes Auftreten unglaublich herausfordert.

Aber der Blick aus dem Fenster am Morgen hilft mir immer wieder auch zu denken: Hey, diese Menschen sehen so anders aus als ich und ticken vielleicht auch ganz anders, aber wir sind alle Menschen dieser einen Schöpfung. Wollen alle ein gutes Leben. Geliebt und gesehen werden.

Vielleicht sind manche blau und manche grün, aber wir gehören alle zusammen

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28JUN2024
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Als die Israeliten beim Auszug aus Ägypten die Grenzen des Heiligen Landes erreichten, riet der Herr Moses, Kundschafter nach Kanaan zu schicken.Zwölf Männer, die die zwölf Stämme Israels repräsentierten. Sie zogen vierzig Tage lang umher.  Die Bewohner von Kanaan betrieben eine hoch entwickelte Landwirtschaft und lebten in solide gebauten Häusern aus Stein und Holz, was die Israeliten in Erstaunen versetzte...  Nach 40 Tagen erstatten die Kundschafter dem ganzen Volk Bericht.  Die meisten von ihnen haben in ihren Meldungen nicht die Unwahrheit gesagt.  Sie haben lediglich berichtet, „dass das Volk, das im Lande wohnt, sehr mächtig ist, und dass die Städte sehr stark und groß sind.  (4.B.M.13: 28)...außerdem wurden dort wahrhaftige Riesen gesehen....“ (4.B.M.13:33)

Sie haben weder manipuliert noch gelogen, aber sie haben die Erfahrung mit starken Tönen „gefärbt“ und ihre eigene Einschätzung hinzugefügt: Wir werden niemals in der Lage sein, dieses Land zu erobern.  Mit ihrer Aussage verbreiteten sie Hilflosigkeit und Verzagtheit.

Im Lager brach eine offene Rebellion aus.  Immer mehr Menschen forderten aus Angst die Rückkehr nach Ägypten! Wegen ihrer Feigheit und Verzagtheit erlitten die Israeliten eine schwere Strafe: Vierzig Jahre lang mussten sie in der Wüste umherziehen.  Bis auch der letzte, dessen Seele noch von den Gedanken der Knechtschaft genährt wurde, diese Welt verließ.....  Erst dann, wenn eine in Freiheit geborene Generation an die Stelle ihrer Väter tritt, werden sie das Land der Verheißung als Erbe empfangen und schätzen können... Eine Lektion über den Wert von Freiheit und Unabhängigkeit, an die wir uns jedes Jahr erinnern müssen, wenn wir diese Berichte lesen.

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27JUN2024
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Die menschliche Stimme ist so etwas Wunderbares. Ich finde es unglaublich, was sie alles transportieren kann. Wesentlich mehr als nur Worte. Wenn zum Beispiel jemand mit mir spricht, höre ich auch, ob er traurig oder fröhlich ist.

Darüber hinaus ist unsere Stimme völlig individuell. Wenn meine Mama am Telefon „Hallo“ sagt, erkenne ich sie sofort. Ohne, dass sie ihren Namen sagen muss.

In ganz vielen Begegnungen ist mir das aber gar nicht bewusst, was die Stimme alles mittransportiert. Wenn ich jemandem vor mir habe, spielt eine große Rolle, was er anhat, wie er sich bewegt und sein Gesicht aussieht. Anders ist das hier. Im Radio. Da gibt es nur die Stimme. Kein Gesicht, dass ich dazu im Kopf habe, wie, wenn ich mit jemandem telefoniere, den ich kenne. Keine Mimik. Keine Gestik. Nur die Stimme und was sie erzählt.

Wie wichtig eben nicht nur der Inhalt ist, sondern auch, wie man etwas erzählt, ist mir erst bewusst, seit ich fürs Radio arbeite. Und das war anfangs für mich gar nicht so einfach. Ich dachte zuerst: Sprechen…klar, das kann ich ja. Das ist keine Kunst. Außerdem bin ich es als Pfarrer gewöhnt am Mikrofon zu stehen und zu Leuten zu sprechen. Weit gefehlt. Das Sprechen hier im Radio fiel mir anfangs gar nicht so leicht. Nachdem ich jahrelang Pfarrer war, hatte ich mir einen gewissen Ton angewöhnt, der fürs Radio nicht so richtig gepasst hat. Mir ist passiert, was manchen in meinem Beruf über die Zeit hinweg passiert. Weil ich alles wichtig fand, habe ich auch alles betont. Habe zu langsam gesprochen. Ein wenig verzögert. Und dann klingt alles so betroffen und schwer. Nicht unbedingt so, wie man einen Radiobeitrag hören möchte. Ich auch nicht.

Ich glaube, inzwischen krieg ich das ganz gut hin. Aber das war ne ziemliche Arbeit.

Weil Sprechen nicht so einfach ist. Seine eigene Stimme und den eigenen natürlichen Ton zu finden und mit diesem bewusst etwas zu erzählen.

Seitdem achte ich auch mehr auf die Stimmen, die mir den Tag über begegnen. Nicht nur im Radio. Denn es ist so, wie wir im Deutschen sagen: Der Ton macht die Musik.

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26JUN2024
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Ramona hat Narben auf ihrem Arm. Viele. Längs und quer. Alle zwei oder drei Zentimeter lang. Wenn ich sie treffe, lächelt sie meistens. Sie kann wunderschön singen und schließt demnächst ihr Studium ab. Aber ihre Narben erzählen davon, dass es ihr in ihrem Leben nicht immer gut ging. Sie sich selbst verletzt hat. Um sich zu spüren. Sich abzulenken. Vielleicht beides. Sie schrieb mir mal: „Weißt Du, Wolfgang, manchmal ist es ganz schön dunkel und stürmisch in mir.“

Mich beindruckt, wie offen Ramona damit umgeht. Sie keinen Hehl aus ihren Schwächen macht. Das zeigt sich auch auf ihrem Arm. Dort sind nämlich nicht nur Narben. Sondern sie hat sich eine Tattoo darüber stechen lassen. Es soll sie daran erinnern, dass es eben nicht nur die dunklen Zeiten gibt. Und wenn sie doch wiederkommen, dann ist es auch ok. Denn niemand muss seine Schwächen verstecken und keinem geht es immer gut. Genau darum ist auf ihrem Arm über den Narben groß zu lesen: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“

Das ist ein Zitat des Apostels Paulus. Paulus gilt zwar als der große christliche Missionar des ersten Jahrhunderts, aber selbst der hat nicht alles einfach geschafft. Ganz im Gegenteil. Aus seinen Briefen ist herauszulesen: Ihm ist bewusst, dass er nicht alles kann und Schwächen hat. Wenn er zum Beispiel Angst bekommt oder sich ohnmächtig fühlt, weiß er, dass das ok ist, weil er auf einen Gott vertraut, der ihn genau darin begleitet und ihm genau dann nahe ist. Dass ihm das Mut und Stärke gibt und er deshalb ehrlich sich selbst und anderen gegenüber sein darf.

Das klingt alles einfacher als es ist. Ramonas Arm erzählt davon. Denn es ist furchtbar, wenn Menschen sich so schlecht fühlen, dass sie sich selbst verletzen.

Aber, wenn es mir nächstes Mal nicht so gut geht, werde ich an Ramona denken, an ihre Narben und vor allem an ihr Tattoo. Ich werde mich daran erinnern, dass es ok ist, seine Schwächen zu zeigen. Darüber auch mit anderen zu sprechen.

Denn, „wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“

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25JUN2024
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Ein Lied, dass ich immer und immer wieder hören kann, ist: „Here's to the ones who dream“ - „Ein Hoch auf diejenigen, die träumen“. Es stammt aus dem Musical Lalaland und ist ein Plädoyer für alle Träumer. Auf die Menschen, die nicht alles analytisch abwägen oder nur eine dunkle Zukunft erwarten, sondern die im Kleinen und im Großen träumen. Gegen alle Negativschlagzeilen.

Ich denke dabei an Menschen, wie den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado. Als dieser vor 25 Jahren zusammen mit seiner Frau in deren Heimat zurückkam, erschraken die beiden darüber, wie viel dort inzwischen abgeholzt wurde. Wo früher eine wuchernde Küstenlandschaft war, ihr Heimatland, war nur noch vertrocknete und brache Erde übriggeblieben. Vielleicht dachten sich die beiden: „Ein Hoch auf diejenigen, die träumen.“ Und sie haben angefangen zu träumen. Ganz konkret. Haben ein Projekt zur Aufforstung ins Leben gerufen. Und in den vergangen zweieinhalb Jahrzehnten wurden dadurch vier Millionen Setzlinge gepflanzt. Fast dreihundert verschiedene Pflanzen wachsen inzwischen wieder dort und allein knapp zweihundert verschiedene Arten von Vögeln leben in diesem Gebiet. Und nicht nur das: Mit den Bäumen kam auch das Grundwasser zurück.

Ich denke bei den Träumern auch an die Menschen, die nach dem zweiten Weltkrieg Projekte für die Annäherung von Frankreich und Deutschland ins Leben gerufen haben. Städtepartnerschaften geknüpft haben und bis heute pflegen. Lehrer und Lehrerinnen, die Fahrten und Austausch möglich machen. Begegnungen schaffen, damit alle erleben: Da drüben wohnen keine Feinde.

All das lässt auch mich träumen und hoffen. Dass es nicht nur den Klimawandel gibt, sondern auch Möglichkeiten etwas dagegen zu tun. Und wenn es nur eine Blumenwiese ist, die ich säe. Genauso, dass es eine Zukunft für Israelis und Palästinenser, Ukrainer und Russen geben kann. Annäherung. Verständnis. Zuwendung. Und, dass das auch bei mir anfängt, wie ich andere Menschen sehe und ihnen begegne.

Und wenn ich wieder meine Kopfhörer im Ohr habe, ich dieses eine Lied aus Lalaland höre, dann denke ich: Wir brauchen Träumende und ich frage mich: Welchen Traum kann ich wohl heute noch umsetzen?

Here's to the ones who dream!

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24JUN2024
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Johannes der Täufer war ein seltsamer Typ. Ich glaube ein ziemlicher Eigenbrötler. Jetzt mal ehrlich. Wenn jemand, wie es in der Bibel von ihm heißt, Kamelhaar um sich rumwickelt, von Honig lebt und in der Wüste wohnt… Ich glaube nicht, dass ich mit dem befreundet gewesen wäre.

Die katholische Kirche feiert heute seinen Geburtstag. Und obwohl mir vieles an diesem Johannes sehr fremd vorkommt, beeindruckt mich, wie er den Menschen damals von Gott erzählt hat. Wie er sich selber dabei gar nicht so wichtig genommen hat. Und er anderen Menschen geholfen hat. Ganz uneigennützig.  Viele Menschen sind damals zu ihm gekommen, weil sie unsicher waren. Was sie glauben sollten und wie sie leben sollten. Sie haben ihm zugehört und nicht wenige haben sich dann auch von ihm taufen lassen.

Wenn ich an Johannes denke, denke ich automatisch an viele Menschen, die mir meinen Glauben nahe gebraucht haben. Meine Oma zum Beispiel, für die der Glaube an Gott so selbstverständlich war. Beten und in den Gottesdienst gehen, dass war für sie kein „muss“, sondern war einfach Teil ihres Lebens.

Oder ich denke an Roland, ein befreundeter Priester, der mich lange begleitet hat. Bei dem ich gelernt habe, über meinen Glauben zu sprechen. Meine Empfindungen im Gebet in Worte zu bringen. Was mir anfangs gar nicht so leicht gefallen ist.

Auch heute noch gibt es Menschen, die so sind, wie dieser Johannes. Allerdings lebt keiner in der Wüste und es ist mir auch noch niemand begegnet, der Kamelhaar um sich herumgewickelt hatte. Aber, ich glaube, es sind genau diese Menschen, wie meine Oma oder Roland, die mir uneigennützig etwas beigebracht haben. Die mir geholfen haben, meinen Weg im Glauben und Leben zu finden. Meine Lehrer in der Schule, die ehrenamtlichen Gruppenleiter, als ich in der Jugendarbeit aktiv war, meine Dozenten an der Universität und die viele Menschen, die mich in der Kirchengemeinde begleitet haben.

Heute am Johannestag ist für mich eine gute Gelegenheit an diese Menschen zu denken. Deshalb habe ich mir vorgenommen, dem ein oder anderen heute eine Nachricht zu schreiben und „Danke“ zu sagen: "Danke, dass Du mein Johannes bist“.

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