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SWR4 Abendgedanken BW

Können Sie sich noch an den letzten Regenbogen erinnern, den Sie gesehen haben?
Meinen habe ich noch deutlich vor Augen. Weil ich der Sonne entgegen ging, hätte ich ihn fast nicht bemerkt. Aber zum Glück hatte ein Jugendlicher ein paar Schritte hinter mir mit solcher Begeisterung gesagt: Oh, ist der schön!", dass ich mich umgedreht habe.

Und ich sah einen perfekten Regenbogen, leuchtende Farben. Ich sah, wo er auf beiden Seiten die Erde berührte, und auch ein zweiter Regenbogen war da, wie immer etwas blasser. Als ich mich satt gesehen hatte, ging ich weiter, den Regenbogen im Rücken.

Ein kleiner Junger kam mir auf seinem Roller entgegen: Hast Du ihn auch gesehen?Dann 100 Schritte weiter an der Bushaltestelle sprach mich eine alte Dame an: Haben Sie ihnauch gesehen? Und ich habe mich zum dritten Mal umgedreht.

Die Schönheit hatte alle drei so sehr beeindruckt, dass sie ihr Staunen nicht für sich behalten konnten. Es wäre zu schade gewesen, wenn ich das nicht gesehen hätte.
Hinter der Schönheit des Regenbogens muss noch mehr stecken. Darin sind sich fast alle Kulturen einig und sie geben dem Regenbogen eine religiöse Bedeutung, zum Beispiel als Brücke zwischen der irdischen und der himmlischen Welt.

Auch die Bibel hat eine Geschichte vom Regenbogen, und sie erzählt sehr menschlich von Gott. Gott wird nämlich zornig über die Bosheit der Menschen und deshalb schickt er die Sintflut, die beinahe alles Leben zerstört - bis auf Noah und die Geschöpfe in seiner Arche.
Ja, der Gott, von dem wir glauben, dass er die Liebe ist, kann zornig werden. Er ist kein gefühlloser, distanzierter Zuschauer. Er ist Liebe und wer sonst kann so zornig werden wie die Liebe, wenn sie sieht, wie geliebte Geschöpfe erniedrigt und zerstört werden. Die Liebe kann doch nicht milde lächeln und unbeteiligt bleiben, wenn Unrecht geschieht.

Die Regenbogengeschichte der Bibel geht so weiter: Gott lernt aus der Erfahrung der Sintflut und gibt ein Versprechen: Das will ich mir und meinen Geschöpfen nie mehr antun, ich will mein Handeln nicht mehr von meinem Zorn regieren lassen.

Bildlich gesprochen: Gott will nie mehr tödliche Pfeile abschießen Deshalb legt er seinen Kriegsbogen aus der Hand, endgültig und öffentlich. Er stellt ihn als Regenbogen in die Wolken, damit er selber an sein Versprechen erinnert wird, und damit wir Menschen daran erinnert werden.

Viele Juden beten deshalb, wenn sie einen Regenbogen sehen:
Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott.
Du regierst die Welt, Du erinnerst dich an deinen Bund
und bleibst im treu. Du stehst zu deinem Wort.

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SWR4 Abendgedanken BW

Neulich im Bus hätte ich mich gerne an einem Gespräch beteiligt. Die beiden Männer waren in meinem Alter, Mitte sechzig. Als der Zweite einstieg, spürte man seine innere Erregung. Er hatte seinen Bekannten neben mir entdeckt und setzte sich mit einem Seufzer zu uns. Und sofort sprudelte es aus ihm heraus: Du, ich habe mich eben fürchterlich aufgeregt, einen richtigen Zorn gekriegt. - Ja, und warum? - Da auf dem Bürgersteig, ein paar Meter vor mir ging ein alter Mann, also richtig alt und mit Stock, und da kamen ihm drei Schüler auf Fahrrädern entgegen - so, als gehörte der Bürgersteig ihnen, und der alte Mann musste ihnen ausweichen und dann hat er gesagt: Passt doch auf, hier ist eigentlich für Fußgänger! und dann haben die zurück gegoscht. Und da hat mich der Zorn gepackt. Einen habe ich noch am Gepäckträger festhalten können und dem hab' ich, möglichst ruhig, aber deutlich gesagt: Du, der Mann da vorne hat Recht. Ihr dürft hier nicht fahren. Ihr müsstet euch eigentlich bei ihm entschuldigen.

Hat er natürlich nicht getan. Er war froh, dass ich ihn wieder los ließ, und ist schnell weiter gefahren, aber er hat meinen Zorn gespürt. Und ich spür ihn auch immer noch. Und ich dachte, ich würde im Alter gelassener.

 Tja, sagte der andere: Gefühle sind eben ungehorsam. Die kommen einfach, unabhängig von unserm Alter. Aber so ein gerechter Zorn - der fühlt sich doch eigentlich ganz gut an, oder?
Du hast recht, sagte der Zornige. Da habe ich mich stark gefühlt. Aber vor allem bin ich froh, dass ich einigermaßen ruhig geblieben bin.

Ich hätte mich gerne an dem Gespräch beteiligt. Seit dem letzten Gottesdienst denke ich oft über den Zorn nach. Denn in dem Psalm, den wir gebetet haben, hieß es: „Wenn ihr zürnt, dann sündigt nicht!"

Und seitdem denke ich: Zorn ist eine wichtige Energie, die aber umgewandelt werden muss. Zorn kann uns die Augen für Unrecht öffnen, aber er ist ein schlechter Ratgeber.

Und ich habe begriffen: Zorn und Empörung, die sind schnell. Aber die Einsicht beim anderen, dass er wahrscheinlich im Unrecht ist, die wächst meistens langsam. Der junge Radfahrer zum Beispiel, der kann doch nichts zugeben oder sich entschuldigen, wenn seine beiden Kumpel dabei zuschauen. Trotzdem glaube ich, die zornige, aber gebremste Reaktion wird bei ihm Spuren hinterlassen.

Ein Gebet aus dem Gottesdienst habe ich mir gut gemerkt: Gott, erhalte uns die Gabe des Zorns über das Unrecht und gib uns deinen Geist, damit wir dann das Richtige tun.

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SWR4 Abendgedanken BW

Heute ist der Welttierschutztag. Und der ist 2010 mindestens so wichtig wie 1931, als in Florenz der 1. Welttierschutztag ausgerufen wurde.

Warum man den 4. Oktober gewählt hat?
Das ist der Tag, an dem in den Kirchen an Franz von Assisi erinnert wird.
Franziskus gilt ja als der Schutzpatron der Tiere, denn für ihn waren sie lebendige Mitgeschöpfe und Geschwister der Menschen. Es wird erzählt, dass die Tiere keine Angst vor ihm hatten und dass er ihnen manchmal kleine Predigten gehalten hat.

Ich bin sicher, dass aber zuerst die Tiere zu Franziskus gesprochen haben, dass sie ihm gepredigt haben und erzählt von der Größe des Schöpfers und der Vielfalt der Schöpfung und wie sehr Menschen und Tiere zusammengehören.

Neulich war in der Zeitung eine Meldung, die war für mich auch so eine kleine Predigt, die mir die Krähen gehalten haben.
Dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, ist sprichwörtlich geworden. aber es heißt ja keineswegs, dass Krähen nicht miteinander streiten - und dass dabei auch die Federn fliegen. Und dann gibt es einen Sieger und einen Besiegten.

Nun haben Vogelkundler beobachtet, wie die Krähen nach so einem Kampf mit dem Unterlegenen umgehen.

Und sie haben herausgefunden, dass sich Krähen, die nicht an dem Streit beteiligt waren, um den unterlegenen Artgenossen kümmern, ihn trösten. Die Vogelexperten meinen nun, das bedeutet: die Tiere können sich in andere Tier hineinfühlen, sie spüren die Gefühle des Unterlegenen, seine Niedergeschlagenheit.

Und wer spendet diesen so wichtigen Trost, der natürlich auch dafür sorgt, dass die Harmonie im Schwarm wieder hergestellt wird? Am häufigsten ist es der beste Gefährte des Verlierers, derjenige, mit dem er am meisten zusammen ist, das Futter teilt und gegenseitige Körperpflege betreibt. Bei Hunden und Wölfen und Menschenaffen kann man Ähnliches beobachten.

Hier liegen wohl die Wurzeln für unsere Fähigkeit zum trösten, aber zum Glück haben wir uns weiter entwickelt. Während Tiere nur ihre besten Gefährten trösten, stehen Menschen auch gelegentlich ganz Wildfremden tröstend zur Seite. Wir Menschen können unser Mitgefühl ausweiten über die Grenzen unserer Familie, unserer Freunde und unserer Art hinaus.

Immer wieder lernen wir, dass wir mehr mit den Tieren gemeinsam haben, als wir dachten. Sie spüren auch Schmerzen, Angst und Mitgefühl. Gewichtige Gründe, dass wir sie schützen. Der heutige Welttierschutztag erinnert daran.

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SWR4 Abendgedanken BW

Da gab ich ihm 20 Euro Trinkgeld, um ihn zu bestrafen!"
Harald Schmidt erzählte im Radio von dem Taxifahrer, der ihn gleich erkannte und deutlich spüren ließ, dass er ihn nicht leiden kann. Er hatte ihn trotzdem mitgenommen, aber die ganze Zeit über beschimpft.

„Da gab ich ihm 20 Euro Trinkgeld, um ihn zu bestrafen!"

So habe ich das Trinkgeld noch nie eingesetzt.
Wollte er dem Fahrer zeigen: du kannst mich doch nicht beleidigen. Ich steh doch nicht mit dir auf einer Stufe!?
Oder hatte er den biblischen Ratschlag im Hinterkopf: Ihr sollt Böses mit Gutem vergelten!? Aber das will er nicht so direkt sagen?

Ich weiß es nicht, aber es hat mich angeregt, übers Trinkgeld nachzudenken.
Trinkgeld: das klingt veraltet: Die Herrschaften geben ein wenig, damit sich die Bediensteten auch mal was leisten können.

Meist ist es Routinesache. Man rundet auf, zwischen 5 und 10 Prozent. Stimmt so!

Aber wenn bei einer Summe von 29.80 Euro dreißig Euro hingelegt werden mit der Bemerkung: der Rest ist für Sie! dann kann das ja schon wie eine Beleidigung sein.

Wer glaubt, dass der Mensch nur auf seinen Vorteil aus ist, für den bleibt das Trinkgeld ein Rätsel. Das Trinkgeld im Voraus, etwa bei der Ankunft im Hotel, das ergibt einen Sinn: eine kleine Bestechung, mit der ich mir Wohlwollen erkaufe.
Aber warum geben wir Trinkgeld nachträglich und in Situationen, die sich nie wiederholen werden, in dem Cafe unterwegs, wo wir zufällig Halt machen? Dass man freundlich hinter uns her denkt - kann uns doch egal sein.

Manche behaupten, es sei noch ähnlich wie früher: Es ginge darum, den eigenen Status zu demonstrieren, die eigene Wichtigkeit. Ich bin Gast, also gewissermaßen „König" - Du bist Dienstbote, also mindestens eine Stufe tiefer.
Wenn es so wäre, dann sollte man das Trinkgeld abschaffen. Dann widerspräche es meiner Überzeugung, dass wir grundsätzlich gleichwertig sind.
Akzeptieren kann ich es nur, wenn ich es ansehe als Teil eines Rollenspiels. Jetzt spiele ich die Rolle des Gastes - und die mag ich, jedenfalls für einen Abend oder ein paar Tage im Urlaub. Und der andere spielt die Rolle als Bedienung, vielleicht gerne, vielleicht notgedrungen. Aber wenn jeder seine Rolle gut spielt, dann macht es allen Spaß. Und es ist gut, wenn zwischen uns klar ist, jeder ist mehr als diese Rolle, die er gerade spielt. Und es ist schön, wenn dann und wann auch etwas spürbar wird von dem Menschen hinter der Rolle. Und das geschieht am ehesten dann, wann man sich ansieht. Auch beim Trinkgeldgeben.

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SWR4 Abendgedanken BW

Viele Kindergärten sind nach ihm benannt. Heute ist sein Tag im ökumenischen Heiligenkalender. Auf seinem Grabstein steht: Er was 59 Jahre lang der Vater des Steintals.
Ich spreche von Johann Friedrich Oberlin.
1767, da war er 27 Jahre alt, wurde er Pfarrer im Steintal, in einer der ärmsten Gemeinden im Elsass. Hier wirkte er als Seelsorger, aber auch als Landwirt und Obstbauer, Volkserzieher, Sozialreformer.
Am Anfang gab es durchaus Widerstände gegen seine neuen Ideen. Aber Oberlin nahm Hacke und Schaufel selber in die Hand, zeigte, welche Obstbäume im Steintal bessere Erträge brachten, und wie man Brücken baut.
Er führte die Schulpflicht ein und gründete gemeinsam mit seiner Frau die erste Kleinkinderschule. Denn Oberlin hatte erkannt: die Kinder wollen und können lernen, wenn man ihnen die Möglichkeiten dazu gibt. Besonders den Mädchen wollte er den Weg in einen Beruf bahnen und eröffnete eine Strickereischule.

Was hat ihn motiviert?
Sein Glaube, seine persönliche Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber. Deshalb war es ihm so wichtig, mit der Schöpfung verantwortlich umzugehen, und das hieß für ihn, lernen, ausprobieren, planen und vorausschauen.
Seine Grundlage war die Bibel, seine Plattform die Kanzel am Sonntagmorgen im Gottesdienst. Da verkündete er seine Ideen, die das Leben veränderten.

Am Anfang muss er wohl oft sehr hart mit der Gemeinde umgegangen sein, aber die Jahre machten ihn barmherziger, und vor allem: er blieb bereit, zu lernen und sich selbst zu ändern.
Es wird erzählt:
Der ortsbekannte ‚Säufer' Nicolas war wie üblich nicht im Gottesdienst gewesen, hatte sich aber im Wirtshaus die Predigt erzählen lassen. Oberlin hatte über die Hölle und ihre ewigen Qualen gepredigt, und Nicolas hatte öffentlich dagegen Einwände erhoben. „Sogar ich" - hatte er gesagt, „sogar ich würde meinem Sohn jederzeit verzeihen, wenn er mich darum bittet. Also wird Gott das erst recht tun. Wie kann man da von ewigen Höllenqualen reden?!
Natürlich kam dem Pfarrer diese Gegenpredigt aus dem Wirtshaus zu Ohren und er nahm sie zum Anlass, über sein Verständnis von der Hölle neu nachzudenken. Und er kam zu dem Entschluss, nie wieder in einer Predigt mit ewigen Höllenqualen zu drohen.

Johann Friedrich Oberlin, Pfarrer, Volkserzieher und Sozialreformer, einer, der nicht aufhörte, selber ein Leben lang zu lernen.
Als er am 1. Juni 1826 starb, hatte er das Leben im Steintal grundlegend verändert.

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SWR4 Abendgedanken BW

Als er in den Bus stieg, wurde er gleich von einem früheren Kollegen begrüßt: „Na, heute nicht mit dem Rad unterwegs?"
„Nein, das musste mal in die Werkstatt. Gangschaltung einstellen, und vielleicht eine neue Kette. Das mach ich nicht mehr selber. Aber ich glaube, ich muss mir ‚ne neue Werkstatt suchen?"
„Wieso, hast du dich geärgert?"
„Ja, es war merkwürdig. Der sagte irgendwann zu mir: Hoj, haben Sie abgenommen? - Zuerst war ich geschmeichelt, das hört man ja gern, aber dann wurde mir plötzlich klar: der hat also bisher immer, wenn er mich sah, gedacht: Der hat auch einpaar Kilo zuviel. Und das hat mich gestört und mir irgendwie die Stimmung verdorben. Oder bin ich da zu empfindlich?"
„Ein bisschen schon. Der wollte dir doch was Nettes sagen. Mich nervt, wenn einer zu mir sagt: Du siehst aber müde aus! Oder: Geht's dir nicht gut?"

 „Ja klar", sagte der Andere, „das kann ich nur von zwei/drei Menschen ganz gut hören, bei den anderen stellen sich mir dann sofort alle Stacheln. Aber ich mag einfach das Gefühl nicht, dass mich die anderen so beurteilend ansehen." - Nach einer Weile fuhr er fort: „Aber ich kenn' das auch von mir. Es gibt Tage, da hab' ich auch diesen abschätzenden, taxierenden Blick und eine innere Stimme, die alles bewertet und Noten verteilt: Die sieht aber gut aus! Der hat aber ‚ne schlechte Haltung, sollte mehr Sport machen!"

Und der Arbeitskollege ergänzte lachend: „Der hat auch ein paar Kilo zuviel."

„Wenn ich das dann bei mir merke", sagte der Andere, „ärgere ich mich über mich selbst. Weißt du, was mir dann hilft? Es ist komisch, aber dann fällt mir immer ein kleines Gedicht von Morgenstern ein. Kennst du vielleicht. Da sitzt ein Hase auf einer Wiese und fühlt sich unbeobachtet. Aber ein Mensch schaut ihn durch ein Fernglas an. Und dann heißt es zum Schluss über den Menschen - das kann ich noch auswendig:
Ihn aber blickt hinwiederum

ein Gott von fern an, mild und stumm.
Und dann sag ich mir, wenn Gott mich so milde anschaut und nicht gleich alles kommentiert, wenn er mich ansieht mit einem Blick, unter dem ich mich wohlfühle, dann könnte ich doch auch die anderen so anschauen und mich zurückhalten mit meinen Bewertungen."
Der Arbeitskollege nickte: „Egal, wie viel Kilos sie haben."

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SWR4 Abendgedanken BW

Mitgefühl braucht mindestens sechs Sekunden!
Das haben Medienforscher herausgefunden. Auf Anzeichen von Schmerz und Angst reagieren wir schnell, aber es braucht mehr Zeit, bis Mitgefühl oder Bewunderung in uns geweckt werden. 6 bis 8 Sekunden - solange also müsste ein Gesicht auf dem Bildschirm bleiben oder im Kino auf der Leinwand zu sehen sein, solange müsste ich es betrachten können, damit in mir Mitgefühl entstehen kann.

Seit ich darauf achte, merke ich, wie selten man dazu Gelegenheit bekommt.'
Meist wechseln die Bilder viel zu schnell. Die nächste Nachricht will meine Aufmerksamkeit. Die nächste Action besetzt das Bild.
Der schnelle Wechsel lässt dem Auge keine Ruhe und dem Herzen erst recht nicht.
Und nach dem Film sage ich vielleicht: Das war extrem gut gemacht! Aber es hat mich nicht im Geringsten berührt!

Wie viel Zeit bekomme ich, damit mich etwas berühren kann?
Wie viel Zeit nehme ich mir, damit mich etwas berührt?
Sehen braucht Zeit.
Das bestätigt indirekt ja auch der, der stolz behauptet: Das habe ich doch gleich auf den ersten Blick gesehen. Denn da klingt ja auch an: normalerweise, wenn man nicht so schnell ist, wie ich, braucht man mehr Zeit.
Mitgefühl braucht mindestens sechs Sekunden.
Ja, ich brauche diese Zeit, um ein Gesicht zu erkennen und das Mienenspiel zu deuten:
Was es ausdrücken soll und was es verbergen will.
Manchmal ist es wie eine geheime Schrift, die ich erst entziffern muss.
Da tritt einer fröhlich auf, und will seine Trauer verbergen.
Da tritt einer forsch auf, um seine Angst zu überspielen.
Hinter der Gewalt ist die Schwäche zu ahnen, hinter der Sucht die Sehnsucht.

Menschen sind ja selten ganz eindeutig. Es ist sprichwörtlich geworden: manchmal haben wir ein lachendes und ein weinendes Auge zur selben Zeit.
Oft haben wir gemischte Gefühle: Ich empfinde Abscheu über das Schreckliche, was einer getan hat, aber es fasziniert mich auch. Ich bewundere den Kollegen, der sich überall durchsetzen kann, und gleichzeitig finde ich unmöglich, wie er Schwächere an die Wand drückt.
Mitgefühl braucht Zeit. Wenn ich mir die Zeit nehme, kann das Mitgefühl auch zu einem Spiegel werden, in dem ich bei mir und in mir Neues entdecke. Mein Verständnis wächst, auch für den, der mir zuerst so fremd war. Und mein moralisches Urteil wird vorsichtiger und barmherziger.

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SWR4 Abendgedanken BW


Das einzige Lebewesen, das weinen kann, sei der Mensch. Das hat mir erst auf den zweiten Blick eingeleuchtet.
Unsere Augen brauchen doch Feuchtigkeit, einen Tränenfilm, damit sie nicht austrocknen und damit sie mit Nährstoffen versorgt werden. Das brauchen unsere menschlichen Augen doch genauso wie die Augen der Tiere.
Ja, aber die Tränen, die wir bei starkem Schmerz weinen, in der Trauer, aus Enttäuschung oder Freude, die sind etwas anderes. Die gibt es – soweit wir wissen – nur beim Menschen. Diese Tränen haben keine Bedeutung für die Augen, aber sie sind ein Signal an die anderen. Diese Tränen gehören zu den elementaren Äußerungen des Menschen. Schon im Alter von drei Wochen kann ein Baby nicht nur durch Schreien, sondern auch durch Tränen deutlich machen, dass ihm etwa fehlt. Ein Hilferuf, der jeden anspricht.

Kein Wunder also, dass die Tränen auch in der Bibel eine wichtige Rolle spielen.
Jemand hat sogar behauptet: Ohne das Salz der Tränen wäre die Bibel nicht entstanden. Denn nicht die Gelassenheit ist die Grundstimmung und vorherrschende Gemütslage des Glaubens, sondern eine leidenschaftliche, ungeduldige Sehnsucht nach Leben, nach Gerechtigkeit und nach der Nähe Gottes.

Ja, Tränen gehören zur Bibel. Sie finden sich bei den Propheten, und in den Augen Jesu und in vielen Psalmen. Manchmal als Hilfeschrei an Gott: Schweige nicht zu meinen Tränen! Oder als Ausdruck verzweifelter Hoffnung: Ich weiß, Du hörst mein Weinen. Du zählst meine Tränen.
Du zählst meine Tränen – das ist ein starkes Bild. So schauen sich Liebende an, mit gesteigerter Aufmerksamkeit für jeden Augenaufschlag und jede Regung. So sitzt man am Bett eines Kranken und nimmt jeden Atemzug wahr und jedes Schlucken, zählt den Puls und die Seufzer, spürt die Anzeichen des Schmerzes und die Momente des Aufwachens.

Wenn ich darauf vertrauen kann, dass meine Tränen gezählt werden, dann darf ich sie ja weiter weinen, und kann doch auch schon unter Tränen halb getröstet sein.
Denn was sonst kann so trösten wie die Gewissheit, da ist jemand, der sieht mich, der sieht genau hin und der bleibt in meiner Nähe.
Das also ist der Mensch, das Lebewesen, das weinen kann, weil es manchmal hilflos ist und Gott vermisst, und das Lebewesen, das auch staunen kann: Du zählst meine Tränen. Du bist bei mir.

Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.
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SWR4 Abendgedanken BW


Mit einer Goldmedaille ist man viel befreiter und lockerer. Die Olympiasiegerin Maria Riesch hat das so erlebt. Aber da schwingt ja auch mit, dass das gute alte olympische Motto: Dabei sein ist alles! doch nicht so ganz stimmt. Immer wieder war zu spüren: Auf das Gold kommt es an.

Diesen Widerspruch hat die Stuttgarter Straßenzeitung Trott-war auf charmante Weise überwunden. Zum 15-jährigen Bestehen wurden die Verkäuferinnen und Verkäufer ausgezeichnet. Es gab nur Goldmedaillen, aber für alle.
Alle wurden mit Namen genannt und ihre Leistungen wurden kurz beschrieben.
So entstand eine beeindruckende Liste.
Toni zum Beispiel bekam die Goldmedaille, weil er mit wenig Worten viel Charme versprüht,
Boyan bekam Gold für seine Geduld, die er brauchte, bis es geschafft war, für ihn eine Arbeitserlaubnis zu erstreiten,
Inge für ihre Schlagfertigkeit und weil sie ihre Kunden zum Lachen bringt,
Renate für ihre Entscheidung gegen den Alkohol.

Auch Emanuel, der seit 1995 dabei ist und bis jetzt für einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt kämpft, bekam Gold
und Petra, weil sie zu stolz ist, etwas anzunehmen, ohne selbst dafür etwas zu tun,
Roland für seinen Mut, den Schritt in die Unabhängigkeit zu wagen,
Peter für seine Entscheidung weiterzuleben, nachdem er sich ins Koma gesoffen hat,
Rosi für ihr lautes Organ und ihre unvergleichlich liebevolle raue Art,
Inge, weil sie selbst in ihrer Situation sagen kann: Ich bin rundum zufrieden!

Alle bekamen eine Goldmedaille,
auch Hans-Peter, weil er manchmal zugeben kann, dass er sich selbst belügt,
Gerlinde, weil sie es wieder geschafft hat, ihre Schulden abzubauen,
Ahmad, weil er trotz großer Schmerzen und Schlaflosigkeit nicht klagt,
Petra, weil sie bei Trott-war nicht mehr jeden als Feind erlebt,
Oliver, weil er inzwischen manchmal für sich selber spricht,
Heidi für ihr herrliches Lachen,
Günter, weil er den Durchblick behält, auch wenn es manchmal nicht so aussieht,
und nicht zuletzt die Familie S, weil sie schon so lange den nervenaufreibenden Alltag einer Familie im Hartz-IV-Bezug aushält.

Alle bekamen eine Goldmedaille. Ob das schon der angemessene Lohn für ihre Leistungen ist, mag man bezweifeln. Aber ich bin sicher, allen hat es gut getan, zu erleben, dass sie beim Namen genannt und gewürdigt wurden.
Und das nicht nur von Gott, der ins Verborgene sieht und der unsere Herzen kennt.
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SWR4 Abendgedanken BW


Ansprüche haben die Leute! – Immer wenn ich diesen Satz höre, aber auch wenn ich ihn selber sage oder nur im Stillen denke, dann geht ein kleines Warnlämpchen in meinem Kopf an. Es zwingt mich, meine Empörung genau anzuschauen und mich zu fragen: Von welchem Standpunkt aus rede ich? Von oben herab oder von unten nach oben oder auf Augenhöhe?

Es ist ja sehr zwiespältig mit den Ansprüchen.
Einerseits werde ich umworben: Seien Sie anspruchsvoll! Nur da Beste ist gut genug. Das sollten Sie sich wert sein.
Auf der anderen Seite höre ich zum Beispiel aus dem Rathaus: Die Kassen sind leer.
Wir können nicht alle Ansprüche befrieden, selbst berechtigte und gesetzlich garantierte Ansprüche nicht.

Sind wir zu anspruchsvoll geworden? Bin ich zu anspruchsvoll? Woran kann ich das messen?
Bei einer Umfrage wurden Menschen aller Einkommensschichten danach gefragt, was für sie zum notwendigen Lebensstandard gehört.
Achtzig Prozent sagten, dass Toilette und Dusche, eine Waschmaschine und eine warme Mahlzeit pro Tag unbedingt notwenig seien. Mehr als die Hälfte war auch der Meinung: Telefon, Fernseher und Auto gehören unbedingt zum Notwendigen.
Es zeigte sich, dass man die Dinge, die man selber hat, auch für notwendig ansieht.
Das hilft mir also nicht weiter, wenn ich mich frage: Bin ich zu anspruchsvoll?

Dann habe ich von einer Finanzcooperative gelesen. Da werfen acht Erwachsene und zwei Kinder seit ein paar Jahren ihr Geld in einen Topf. Sie durchbrechen das Prinzip: Es ist mein Geld, und wofür ich es ausgebe, geht keinen etwas an.
Die Bandbreite der Berufe und Einkommen ist groß, sie reicht von der Ärztin bis zum Hartz-IV-Empfänger. Alle sechs Wochen treffen sie sich und reden darüber, wie sie das Geld ausgeben. Jeder gibt an, wie viel er monatlich für die normalen Ausgaben braucht. Aber besondere Ansprüche, also Anschaffungen ab hundert Euro müssen angemeldet werden. Und dann wird darüber diskutiert – auf Augenhöhe - über Reisen, über den neuen Computer oder das Fahrrad.
Ihnen geht es nicht darum, dass alle das Gleiche tun und besitzen. Aber jedem ist wichtig, dass er sich und seine Ansprüche hinterfragen lässt, eine Rückmeldung bekommt und dadurch ein besseres Gefühl dafür, was angemessen ist.
Sie trauen dem Urteil der Gemeinschaft viel zu, vielleicht gerade deshalb, weil die Einzelnen so verschieden sind und so unterschiedlich viel verdienen.

Ich kann es mir für mich selber noch nicht vorstellen, aber es hat mich sehr beeindruckt.
Denn der Zeitungsbericht war überschrieben: Beim Geld beginnt die Freundschaft!
Ich ahne, so etwas könnte Jesus gemeint haben mit seinem Ratschlag: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.
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