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SWR2 Wort zum Tag

09SEP2021
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Ich habe den Eindruck: Lieder können so etwas sein wie ein „Kissen der Hoffnung“. Wie ein Trostkissen kann man sich auch ein Lied nehmen, und die Seele darin bergen, wenn das Leben seine Härten zeigt. Das tut es besonders dann, wenn ein Mensch stirbt. Jemanden beim Sterben zu begleiten, das verlangt viel von denen, die mitgehen, seien es nun Angehörige oder Seelsorgerinnen. Da begegnen einem Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst wie sonst nur selten im Leben.

In solchen Situationen habe ich es schon als tröstlich erlebt, Lieder aus dem Gesangbuch zu singen, vorausgesetzt ich wusste, dass mein Gegenüber sie mag. Die Lieder enthalten Worte, die ich mir nicht selbst ausdenken muss; Melodien, die schon viele vor mir gesungen haben.

„Der Mond ist aufgegangen“, „Bleib bei mir Herr“ oder „Nun ruhen alle Wälder“ – für mich sind die Abendlieder aus dem Gesangbuch ein reicher Schatz. Viele von ihnen stammen aus Zeiten, als das Sterben viel präsenter war als heute. Paul Gerhardt etwa schrieb „Nun ruhen alle Wälder“ im dreißigjährigen Krieg. Er kannte den letzten Abschiedsschmerz. So spart er ihn auch in seinen Texten nicht aus, sondern geht ehrlich und von seiner tiefen Hoffnung getragen damit um.

In einer Strophe heißt es zum Beispiel: „Der Leib eilt nun zur Ruhe, legt ab das Kleid und Schuhe, das Bild der Sterblichkeit; die zieh ich aus, dagegen wird Christus mir anlegen, den Rock der Ehr und Herrlichkeit.“ An einer anderen Stelle schreibt er: „Mein Augen stehn verdrossen, im Nu sind sie geschlossen, wo bleibt dann Leib und Seel? Nimm sie zu deinen Gnaden, sei gut für allen Schaden, du Aug und Wächter Israel.“

Für mich sind das Worte und Melodien, in die ich mich einklinken kann. Ich kann meinen eigenen Schmerz, meine Zweifel und meine Hoffnung in ihnen zum Ausdruck bringen. Es ist, als würden sie einen Raum des Vertrauens um mich her aufspannen, gerade dann, wenn ich ihn selbst nicht in mir trage. Die Lieder sind wie ein Kissen der Hoffnung, das durch viele Generationen hindurch an mich weitergereicht wurde.

Spätestens in meiner Generation brechen diese Traditionen allerdings ab. Wir haben kein gemeinsames Liederrepertoire mehr. Trotzdem gibt es noch Texte und Lieder, die taugen und tragen; nur sind das eben bei jedem und jeder andere. Vielleicht sollten wir deshalb die Rubrik „Lieder, die mir helfen können“ in unsere Patientenverfügungen aufnehmen. Und bei Zeiten einmal überlegen, welche Musik mir guttun könnte. Bei mir wird manches von Leonard Cohen dabei sein und manches aus dem Gesangbuch. Haben Sie schon eine Idee?

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SWR2 Wort zum Tag

08MAI2021
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Den eigenen Überzeugungen und dem eigenen Glauben entsprechend zu handeln, oft fällt das sehr schwer. Das gilt schon im normalen Alltag, um wieviel mehr wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht.

Morgen vor 100 Jahren, am 9. Mai 1921, wurde Sophie Scholl geboren. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans ist sie für viele der Inbegriff des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Noch im Verhör nach ihrer Festnahme sagte sie, sie bereue ihr Vorgehen nicht und wolle die Folgen, die ihr aus ihrer Handlungsweise erwüchsen, auf sich nehmen.

Dass ihr diese Konsequenz im Widerstand gegen die Nazis keineswegs in die Wiege gelegt war, stellt Robert Zoske in seiner Biographie über Sophie Scholl heraus. Der evangelische Pfarrer grenzt sich darin von einer unhistorischen Sichtweise auf Scholl ab. Sie sei – nicht zuletzt durch die Familie – zu einem Klischee für das Gute und Einfache geworden und man habe sie zur Heiligen ohne negative Züge stilisiert. Demgegenüber zeichnet er ein zwar einfühlsames, aber auch kritisches Bild der jungen Frau: So betont er etwa, dass der eigentliche Initiator des politischen Widerstands Hans Scholl gewesen sei, dass Sophie zwei Jahre länger als nötig dem Bund Deutscher Mädchen angehört habe und nennt sie wörtlich ein „Hitlermädchen“.

Mich berührt, wie menschlich Zoske Sophie Scholl beschreibt: verführbar, fehlbar, zweifelnd hin- und hergerissen, und schließlich doch zum Äußersten entschlossen und in all dem tief religiös. Ich lerne eine Frau kennen, die sich von der Welt und dem Leid, das ihr begegnet, ansprechen und verändern lässt. Eine Frau, die Fehler macht, und der es an manchen Stellen gelingt, daraus zu lernen.

Keine Heilige also? Aber nur dann, wenn man darunter ein makelloses moralisches Vorbild versteht, das zu jeder Zeit über jeglichen Fehler erhaben ist. Dabei sind in einem evangelischen Verständnis mit den Heiligen schlicht und ergreifend die Gläubigen gemeint. Die sind Gerechte und Sünder zugleich, so formuliert es Luther. Sie sind gerecht, insofern sie auf Gott vertrauen, und Sünder, insofern kein Mensch Gott und sich selbst je ideal gerecht wird.

Als Sophie von den Flugblattaktionen ihres Bruders erfuhr, schrieb sie, sie lege ihre ohnmächtige Liebe in Gottes Hand, damit sie mächtig werde. Sie bat um ein „mitleidiges Herz“, damit sie lieben könne, konkret hieß das für sie: Eintreten in den Widerstand. Ihr großes Gottvertrauen brachte Sophie Scholl dazu, für ihre Überzeugungen einzustehen. Ich finde, sie ist damit eine evangelische Heilige im besten Sinne: Sünderin und Gerechte zugleich.

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SWR2 Wort zum Tag

07MAI2021
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Auf dem Heidelberger Uniplatz sind seit zwei Wochen einhundert Zeitzeugen versammelt. Zwei Meter hoch und einen Meter breit sind die Porträts von Überlebenden der Verfolgung durch die Nazis. Der Mannheimer Künstler Luigi Toscano hat sie aufgenommen. Die Fotos faszinieren mich: Jedes Gesicht erzählt seine Geschichte. Und miteinander erzählen sie dagegen an, dass ich vergesse, was geschehen ist.

Zwischen zwei Fotos ist in das Pflaster des Uniplatzes eine Plakette eingelassen: Sie erinnert an die Bücherverbrennung, die im Mai 1933 hier stattgefunden hat. Die Plakette ist schon lange dort. Durch die Fotos fällt sie aber mehr auf als sonst. Mir kommen die historischen Bilder in den Sinn – die von Nazi-Studenten genau hier.

Irgendwie sind dadurch Opfer und Täter vor mir versammelt und mit ihnen all das, was sie zu erzählen haben, vom Hassen und Gehasstwerden, vom Tötenwollen und vom knappen Überleben. Bei einem Porträt steht, dass die Frau 50 Jahre lang nicht über das, was ihr passiert hat, gesprochen hat. Auch ihr beredtes Schweigen über Unsagbares ist heute spürbar.

Ich bleibe nach meinem Rundgang durch die Ausstellung noch in der Sonne sitzen und lese. Dabei stoße ich auf einen Artikel, in dem ein Mann eine Mobbinggeschichte erzählt. Wie er in seiner Firma zuerst bloß den ein oder anderen Spruch von Kollegen einstecken musste und sich die Sache in der Pandemie dann immer weiter zuspitzte. Er wurde beschimpft und Lügen wurden über ihn verbreitet. Er verlor jeden Halt. Die Situation wurde unerträglich für ihn.

Ich weiß, was die Menschen in der Ausstellung erlebt haben und was der Mann in seiner Firma erlebt, ist nicht vergleichbar. Aber mich verstört, wie schnell und mit welcher Macht Hass und Gewalt sich Bahn brechen können und jemanden zum Opfer machen. Vielleicht passiert das in Zeiten der Pandemie besonders leicht, wenn viel Frust herrscht und Unsicherheit.

Ich habe den Eindruck: Wir leben in einer anderen Zeit als in Nazideutschland, wir sind anders erzogen und wir haben – Gott sei Dank – einen demokratischen Rechtsstaat. Aber wir sind keine völlig anderen Menschen.

Noch einmal schaue ich mir die Ausstellung an. Die Menschen auf den Porträts haben ihr Leben gemeistert. Viele haben Familien gegründet, eine hat ein Buch geschrieben – alle haben zugestimmt, sich für die Ausstellung fotografieren zu lassen. Ihre Augen, ihre Blicke sind beeindruckend. Sie erzählen nicht zuerst die Geschichten des Hasses, sondern vor allem Geschichten vom neuen Leben. Vielleicht hilft vor allem das dem Leben – gegen das Vergessen.

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SWR2 Wort zum Tag

06MAI2021
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Wenn ich mit einem Menschen rede, der Demenz hat, fühlt es sich manchmal an, als sei die Zeit durcheinandergeraten.

Ich denke an eine alte Dame. Sie erzählt von der Flucht 1945. Von der Kartoffelernte als Kind. Von ihrer großen Liebe - einem Freund aus Jugendtagen. Ein paar Mal fragt sie während meines Besuchs nach ihrer Mama. In dem, was sie erzählt, habe ich den Eindruck: Gestern und heute fallen ineinander, Zukunft löst sich auf.

Demenz ist eine fiese Krankheit – gerade auch für die Angehörigen. Sie macht sprachlos und hilflos und oft auch wütend.

Wirklich gut in Kontakt mit den Kranken kommt meist nur, wer sich auf ihre Welt einlässt, wer innerlich mitgeht hierhin und dorthin, wer ein Stück weit aushält, wie fragmentarisch und inkohärent alles ist. Das ist schwer, besonders, wenn mir jemand nahe steht. Auch als Seelsorgerin beschleicht mich dann manchmal das Gefühl, als würde die Zeit auseinanderfallen.

Um damit gut umzugehen, hilft mir eine Idee des Theologen Robert Jenson. Er beschreibt Gott als eine Klammer um die Zeit. Er macht das an Gottes Dreieinigkeit fest. Gott als Vater steht für ihn für die Vergangenheit, der Sohn für die Gegenwart, der Heilige Geist für die Zukunft des Menschen. Der dreieinige Gott ist für ihn ausgespannt über alle Zeiten hinweg, wie eine Klammer, die alles zusammenhält und dabei Vergangenes vergangen sein lässt und die Zukunft offen hält. „Meine Zeit steht in deinen Händen“ – diese alte Glaubenserfahrung gewinnt  in Jensons Bild für mich neue Kraft.

Ich kann die Ordnung der Zeit nicht aufrechterhalten. Ich muss und kann die alte Dame auch nicht dazu bringen, ihre Zeit wieder zu sortieren. Niemand kann das. Aber an manchen Stellen kann ich mich in ihre durcheinandergeratene Welt hineinwagen; etwas von den Gefühlen mittragen, mit denen sie wieder und wieder zu schaffen hat. Das Bild von Gott als Klammer um ihre und meine Lebenszeit hilft mir dabei, weil es mitten im Chaos Halt gibt und trägt. 

Das macht mir Mut. Manchmal wage ich es, gemeinsam mit ihr zu erkunden, welche Schätze wir in ihrer gegenwärtigen Vergangenheit entdecken können. Völlig gleich, wie viel dabei durcheinandergeraten ist. Und was gibt es da nicht alles: Die Kartoffeln, die sie nach der Ernte über dem Feuer grillten, duften und schmecken noch heute. Und ihre erste Liebe ist nach 80 Jahren wieder groß und schön.

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SWR2 Wort zum Tag

27FEB2021
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Bis heute erinnere ich mich an das Gefühl, wenn ich als Kind Phil Collins‘ Song
„In the air tonight“ hörte. Gruselig und gefährlich stellte ich mir vor, worum es dabei ginge. Tatsächlich ist das Lied finster, ein dunkles Ringen mit Gott. Darauf wurde ich aber erst jetzt, durch einen Artikel zu Phil Collins 70. Geburtstag aufmerksam.

Im Refrain heißt es: „I can feel it coming in the air tonight, oh Lord. I’ve been waiting for this moment, for all of my life, oh Lord.” – übersetzt: Ich kann spüren, wie es heute Abend in der Luft liegt, oh Herr. Ich habe mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet, oh Herr.

„Oh Lord“ - der Song ist ein Gebet. Um viele hässliche Erfahrungen geht es da. Im Hintergrund steht die Scheidung von Phil Collins erster Frau. Ich spüre den Zorn und den Ärger, die ihn umtreiben – und Rachegefühle, wenn er singt: „Wenn du mir sagen würdest, dass du ertrinkst, ich würde dir nicht die Hand reichen“. Der Sänger redet über Zwischenmenschliches – aber ich habe den Eindruck: Das sind Erfahrungen, die hat er auch mit Gott gemacht: Wieso brichst du dein Schweigen nicht? Warum lässt du mich hier absaufen und hilfst mir nicht?

In dieser Nacht lässt er Gott nicht einfach so davonkommen. Heute muss Gott sich anhören, welchen Schmerz er verursacht hat und der Sänger greift ihn dafür an.

Ich muss an die biblische Geschichte von Jakob denken, der am Fluss Jabbok mit einem Unbekannten ringt, bis der Morgen anbricht. Als keiner den anderen besiegen kann, will der Fremde sich davonstehlen. Da sagt Jakob zu ihm: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Daraufhin beendet der den Kampf und sagt: „Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.“

Für Jakob ging das Ringen mit Gott gut aus. Für Collins auch: Immerhin wurde „In the air tonight“ sein erster großer Soloerfolg.

Die dunkle Begegnung in der Nacht hat etwas verändert und vorangebracht. Mir macht das Mut, meine eigenen Zweifel und mein Unverständnis Gott entgegenzuhalten. Manchmal will auch ich ihm sagen: „Jetzt bleib mal hier, mein Freund. Wir zwei gehen erst auseinander, wenn Du Dir angehört hast, wie es mir geht!“ Solch eine Auseinandersetzung, solch ein Ringen mit Gott, das schmerzt. Aber nachgeben und den „lieben Gott“ ungeschoren davonkommen lassen? Auf keinen Fall: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“

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SWR2 Wort zum Tag

26FEB2021
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Gerade sind alle gereizt. In der Familie, auf der Arbeit – ein Jahr Pandemie setzt allen zu. Dabei wird mir ganz anders, wenn ich an die Krawalle in den Niederlanden Ende Januar denke und davor schon in Frankfurt oder Stuttgart.
Mir machen diese Nachrichten Angst: Das muss doch anders gehen!

Zumindest in meinem Umfeld probiere ich es anders: Ich bemühe mich um einen freundlichen Ton, um gewaltfreie Kommunikation, um einen konstruktiven Umgang mit Konflikten. Darin sind die meisten geübt, mit denen ich zu tun habe. Wir reden freundlich miteinander, meistens jedenfalls, und geben uns Mühe.

Das Problem dabei ist: Davon geht die gereizte Grundstimmung ja nicht weg. Manchmal habe ich den Eindruck, der Ärger sucht sich einfach andere Wege – und ist dabei erstaunlich erfinderisch: Die eine wird bitter, die andere krank, der nächste schimpft dauernd über „die da oben“. Und im Moment entsteht nun einmal haufenweise Ärger – weil wir uns oft ohnmächtig fühlen und nicht in der Hand haben, wie unser Leben läuft. 

Die biblische Tradition redet Ärger und Zorn nicht klein, im Gegenteil: Manchmal geht es da hoch her! Ich denke an Jesus, der im Tempel die Tische der Geldwechsler umstößt. Das war auch damals schon alles andere als politisch korrekt. Und mancher Psalmbeter wünscht seinen Feinden geradezu die Pest an den Hals.

Mir ist die Gefahr, die diese Texte in sich tragen, bewusst: Sie bergen ein Gewalt-Potential. Aber in unseren gereizten Zeiten der Pandemie entdecke ich eine Tiefe in ihnen, die mir gut tut: Sie erlauben es, Gefühle tatsächlich auch zu fühlen und auszudrücken. Sie brechen mit der falschen Norm, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. 

Gleichzeitig setzt die Bibel den aggressiven Tendenzen einen engen Rahmen. Jesus, der im Tempel selbst zornig wird, nennt nur wenig später das Doppelgebot der Liebe das höchste Gebot. Darin finden Wut, Zorn und Ärger ihr Maß und ihre klare Grenze.

In der Bibel zu lesen verhindert keine Gewalt. Aber mir hilft es, wahrzunehmen, was ich fühle und was ist. Und ich werde daran erinnert, was eigentlich geboten ist: Gott lieben und meinen Nächsten wie mich selbst. Dabei kann ein gewisses Maß an Aggression ja durchaus helfen: Ich gehe einen Missstand dann entschiedener an. Ich rede auch einmal Tacheles, wenn es nötig ist. Gott und den Nächsten lieben – in Wort und Tat: Dafür ist Jesus das beste Beispiel – obwohl oder vielleicht gerade weil er sich manchmal geärgert hat.
Wenn das in dieser Zeit mal keine frohe Botschaft ist!

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SWR2 Wort zum Tag

25FEB2021
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Fasten oder lieber doch nicht? Das habe ich dieses Jahr erst spät entschieden. Eigentlich war ich mir sicher: Ich faste nicht. Verzicht um des Verzichts willen liegt mir nicht.

Damit wusste ich mich in gut evangelischer Tradition. Schließlich war das so genannte Froschauer Wurstessen 1522 ja nicht ohne Grund der Startschuss für die Reformation in der Schweiz. Zwingli selbst war anwesend, als im Hause eines Buchdruckers am ersten Sonntag der Fastenzeit demonstrativ Wurst gegessen wurde. Im Anschluss daran schrieb Zwingli seine erste reformatorische Schrift, in der er das Fastenbrechen im Namen der christlichen Freiheit rechtfertigte. Freiheit des Glaubens statt einengender Fastenordnung!

Zugegeben: Die Situation heute ist anders. Mir schreibt niemand mehr vor, dass ich zu fasten habe. Gleichzeitig gibt es einen Fastenboom: Zu „sieben Wochen ohne“ ruft die evangelische Kirche auf. Klimafasten ist in und in einer Doku, die „Fasten und Heilen“ heißt, lerne ich: Fasten beuge Krankheiten vor und helfe gegen alles Mögliche.

Aber noch mehr Verzicht – und dann auch noch ohne wirklich religiösen Grund? Doch nicht in einer Zeit, in der ich ohnehin auf so vieles verzichten muss! Darüber, was Spaß macht und was nicht, denke ich in Pandemiezeiten ja schon kaum mehr nach.

Eigentlich war die Sache also entschieden…

Bis ich genüsslich mit einer Tasse Kaffee und ein paar Schokokeksen auf dem Sofa saß. Ich griff zu einem Buch, das ich lange schon lesen wollte: „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa. Vom Stummwerden der Welt las ich da, weil uns alles zu jeder Zeit verfügbar sei, und wie uns dadurch die Lebendigkeit abhandenkomme. Lebendig zu sein, setze nämlich Resonanz voraus, bei der ich mich von den Dingen, die mir begegnen, berühren lasse, selbst aktiv darauf antworte und dadurch verändert werde.

Beim Lesen musste ich immer wieder an das denken, was mir andere vom Fasten erzählt hatten: Wieviel intensiver die Welt dann schmeckt und riecht und sich anfühlt. Fasten nicht um der Entsagung, sondern um der Lebendigkeit willen, Fasten als Weg zu einer lebendigeren Beziehung zu den Dingen, zu anderen Menschen – und wer weiß – vielleicht ja auch zu Gott?

Während ich noch darüber nachdachte, stellte ich den leeren Keksteller in die Spüle: Hatte ich die wirklich alle gerade gegessen? Gar nicht bemerkt.

Aus meinem entschiedenen Nein zum Verzicht wurde ein neugieriges Ja zu mehr Genuss und mehr Lebendigkeit: So faste ich also in diesem Jahr, auch wenn der Plan ganz anders war.

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SWR2 Wort zum Tag

26SEP2020
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Was verhindert, dass Menschen zu Nazis oder zu ihren Opfern werden? Diese Frage trieb Ruth Cohn in ihrem Leben und Arbeiten um. Als Antwort darauf entwickelte sie eine Methode, um Gruppen zu leiten, die Themenzentrierte Interaktion.

Im Hintergrund standen Erfahrungen, die Ruth Cohn als deutsche Jüdin machen musste. Geboren 1912 in Berlin, verließ sie 1933 ihre Heimat. Sie ging in die Schweiz und später in die USA. Cohn hat sich zeitlebens kritisch mit den Voraussetzungen von Nationalsozialismus und Totalitarismus auseinandergesetzt.

Als Psychoanalytikerin hatte sie dabei zuerst vor allem den einzelnen Menschen im Blick. Mit den Jahren wurde ihr dann die analytische „Couch zu eng“, so hat sie es einmal formuliert.

Cohn träumte von einer therapeutischen Pädagogik. Sie wollte Menschen stark machen – seien es Kinder oder ihre Eltern, seien es Mitarbeiter in Firmen oder ihre Chefs. Eine humanere Gesellschaft – um nicht mehr und nicht weniger ging es ihr. Von verschiedenen therapeutischen Richtungen beeinflusst, entwickelte sie die Themenzentrierte Interaktion.

Ein zentraler Gedanke der sogenannten TZI ist, dass jede oder jeder einzelne sich selbst gut leitet und vertritt. Dazu will sie Menschen befähigen, in der Überzeugung, dass davon die gesamte Gruppe profitiert. Chairperson-Postulat wird der Gedanke genannt. Jede einzelne ist so etwas wie ihre eigene Vorsitzende, die sich selbstbestimmt, selbstverantwortlich und selbstbewusst in einer Gruppe bewegt.

Im Blick auf unsere gesellschaftliche Situation frage ich mich allerdings, ob sich einzelne nicht gerade zu sehr selbst vertreten, und zwar nur sich selbst. Den Eindruck gewinne ich, wenn ich Bilder von den Anti-Corona-Demos sehe, bei denen viele nur ihre eigene, sehr spezielle Weltsicht gelten lassen.

Die TZI weist in eine andere Richtung: „Schau nach innen, schau nach außen und entscheide dann!“ heißt es dort. Zum Blick nach außen gehört für Cohn der tiefe Respekt vor allem Leben und der verantwortungsbewusste Bezug zu den Mitmenschen und zur Umwelt. Wenn ich ernstnehme, was ich außerhalb meiner selbst sehe, dann muss ich auch die Geschichte unseres Landes mitdenken. Ich kann in Deutschland nicht ausgerechnet für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einstehen, und mich gleichzeitig neben Nazis stellen, am besten noch vor dem Reichstag.

Schau nach innen, schau nach außen und entscheide dann. Wem das als Satz von Ruth Cohn zu psychologisch klingt, dem hilft vielleicht ein viel bekannterer Satz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

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SWR2 Wort zum Tag

25SEP2020
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„Sorgt euch nicht!“, sagt Jesus in der Bergpredigt, „nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht, was ihr anziehen werdet.

Sorgt euch nicht! Wenn das so einfach wäre. Ich kann mir das zwar sagen lassen, aber dann wache ich doch wieder früh auf und mache mir Gedanken um alles Mögliche – um mich selbst, um andere Menschen, um die Welt.

Trotzdem glaube ich: Der Satz stimmt. Die Sorge um mich selbst führt nirgendwo hin. Aus ihr spricht eine große Angst: als würde alles schiefgehen, nur weil ich es nicht in der Hand habe. Genau aus dieser selbstbezogenen Angst will Jesus uns rausholen.

Bei mir hat das vor ein paar Tagen ein Mann auf einem Fahrrad getan. In seinem Rucksack trug er einen ganzen Strauß Gladiolen. Ein witziges Bild: Die langen Blumen ragten in strahlenden Farben hinter seinem Kopf auf. Ich musste schmunzeln, als er vorbeifuhr – und daran denken, wie Jesu Worte aus der Bergpredigt weitergehen: Schaut die Lilien auf dem Feld an […]: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet […]: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun?

Die Lilien auf dem Feld oder die Gladiolen im Rucksack: Sie sind ein gutes Bild für das, was ich nicht machen kann und was mir einfach zufällt. Beim näheren Hinschauen gibt es da vieles: Ich bin gesund – und meine Lieben auch, weitgehend zumindest. Wir haben ein gut funktionierendes Gesundheitssystem. Die Kinder können in die Schule gehen.

Je länger ich nachdenke, umso mehr Gründe zu danken fallen mir ein.
Der Radfahrer mit seinen Blumen – mit ihm wendet sich mein Blick von der Sorge hin zur Dankbarkeit. Das ändert noch nichts an den Problemen in der Welt. Aber mein Blick ändert sich. Er wird freier und ich kann Dinge anpacken. Ich kann dafür Sorge tragen, dass sich etwas ändert. Im Klimaschutz zum Beispiel. Mich dem Klimastreik heute anzuschließen ändert sicherlich mehr als manche sorgenvoll durchwachte Nacht.

Von der Sorge zur Dankbarkeit: Das wird mein Projekt für die kommende Woche.  Ich nehme mir vor: Ein Grund zu danken pro Tag. Vielleicht stecke ich am Ende der Woche für jeden Grund eine Blume in meinem Rucksack. Das gibt einen bunten und schönen Strauß. Bestimmt bringe ich damit den einen oder die andere zum Schmunzeln. Und wer schmunzelt, sorgt sich nicht.

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SWR2 Wort zum Tag

24SEP2020
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„Immer dieses Leiden“, sagt jemand aus der Wandergruppe, als wir auf dem Gipfel des Raschötz in Südtirol stehen.

Das Gipfelkreuz zeigt in moderner Darstellung einen geschundenen Jesus. Eindrücklich erhebt sich das Kreuz mit dem in sich verkrümmten Corpus in den strahlend blauen Himmel. Ringsum sind die schönsten Gipfel der Dolomiten zu sehen. Ein Bild voller Kontraste.

‚Immer dieses Leiden…‘ Seit jeher haben sich Menschen am Kreuz gestoßen. Muss so ein Zeichen im Zentrum des christlichen Glaubens stehen?

Schon in der Bibel wird das Kreuz ein Ärgernis und eine Torheit, wörtlich: ein Skandal genannt. Die früheste Kreuzesdarstellung, die wir kennen, ist das so genannte Spottkreuz auf dem Palatin in Rom. Darauf wird Jesus mit einem Eselskopf dargestellt. Ein leidender Gottessohn – das war in der Antike anstößig – und in Ansätzen ist das bis heute so.

Das Kreuz hat ja auch etwas Kränkendes. Gerade beim Gipfelkreuz merke ich das. Wir haben einen Berg erklommen und haben mühsam Höhenmeter um Höhenmeter zurückgelegt. Aber selbst oben angekommen stehe ich nicht über allem. Da ist immer noch einer über mir – und dann auch noch solch eine leidende Figur!

Der leidende Jesus. Manche sagen: Solche Darstellungen machen den Menschen klein. Sie stellen ihn nur als schwach und verletzlich dar und idealisieren das Leiden.

Das widerspricht vielem, was wir erleben: Besonders wenn ich auf einen Berg wandere, spüre ich, was ich schaffen kann. Ich fühle mich vielleicht müde, aber stark und lebendig. Die Aussicht, die herrliche Landschaft – mein Gefühl ist: Hier oben bin ich dem Himmel ganz nah!

Aber es gibt eben auch die anderen Seite: Wenig später erzählt jemand von der Diagnose, die er bekommen hat und wie sie das Leben verändern wird. Mehrfach reden wir auf unserer Wanderung auch über die vielen Toten, die der erste Weltkrieg in den Dolomiten gefordert hat.

Als Menschen sind wir stark – und sehr verletzlich. Mit dem Kreuz gehört beides auch zu Gott: Jesus hat sich eingesetzt für die Menschen und er starb geschunden und verletzt. In ihm hat Gott selbst menschliches Leid erlebt und er hat es überwunden. Egal, wie schlecht es mir geht – das letzte Wort behält nicht das Leiden, sondern das Leben. Dafür steht das Kreuz.

Für mich macht es den Menschen deshalb nicht klein. Im Gegenteil: Es macht Gottes Menschlichkeit groß.

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