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SWR2 Wort zum Tag

Kürzlich war ich zu einem Fastenbrechen im Ramadan eingeladen. Für Muslime ist der Ramadan die Zeit des täglichen Fastens zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Vier Wochen lang wird der Fastentag allabendlich mit einem gemeinsamen Essen beendet. Die Veranstalter hatten das Thema „Gerechtigkeit“ in den Mittelpunkt gestellt und die Gäste gebeten, sich auch an den Tischen dazu austauschen. Dabei hatte ich eine überraschende Begegnung:

Ich setze mich zu einigen Frauen an den Tisch. An ihren Kopftüchern sind sie gleich als religiöse muslimische Frauen zu erkennen. Meine Tischnachbarin sagt: Gerechtigkeit spielt für mich auch beim Gehalt meiner Mitarbeiterinnen eine Rolle. Ich erhöhe regelmäßig ihren Lohn. – Was sind Sie von Beruf? frage ich sie. - Die Antwort: Ich bin Zahnärztin und habe vor zwei Jahren eine Praxis übernommen. – Überrascht entfährt mir: Wirklich? - Sie lächelt, vermutlich kennt sie die Reaktion schon. Und damit nicht genug: Die junge Frau daneben ist Logistikerin bei einem mittelständischen Betrieb, und die, die gegenübersitzt, arbeitet als Ingenieurin bei einem Automobilunternehmen. Ich komme übrigens nicht von hier, sagt diese, ich bin aus dem Rheinland, da muss man sich erst ein bisschen eingewöhnen. Ich muss lachen, wie charmant sie eine zu erwartende nächste Frage nach ihrem Herkunftsland aushebelt.

Das hätte ich nicht erwartet. Dass sich religiöse muslimische Frauen bei uns so selbstbewusst in männerdominierten Berufen bewegen. Diese drei Frauen am Tisch, alle so um die dreißig Jahre, sind religiös, und sie zeigen das mit ihrem Kopftuch auch. Und zugleich gehen sie einen beruflichen Weg, den ich Ihnen weder angesehen noch, um ehrlich zu sein, zugetraut hätte. Klar kenne ich Arzthelferinnen, die bei der Arbeit ein Kopftuch tragen. Aber hätte ich bei einer muslimischen Frau in der Praxis vermutet, dass sie selbst die Zahnärztin, die Chefin ist? Ich fürchte nein.

Meiner Beobachtung nach verhält sich unsere Gesellschaft sehr reserviert gegenüber muslimischen Frauen. Ich hatte daraus geschlossen, dass ihnen allenfalls die Türen für Sozialberufe offenstehen, und dass ihre Berufstätigkeit mit der Familienphase endet. Die drei Frauen, die ich beim Fastenbrechen getroffen habe, sind auf einem anderen Weg.

Für mich war das ein überraschendes und auch schönes Lehrstück: Ich bin Vorurteilen auf die Spur gekommen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie habe. Das ist dringend geboten, wenn ich den Anspruch habe, andere aufmerksam wahrzunehmen. Und es ist schön, das gelernt zu haben, denn meine Erwartungen wurden übertroffen.

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SWR2 Wort zum Tag

Resilienz ist im Moment ein „Modewort“ auf dem Markt der Beratungskonzepte. Der Begriff stammt eigentlich aus der Physik und meint die Fähigkeit eines Stoffes, auf Störungen, die auf ihn einwirken, unbeschadet zu reagieren.

Eigentlich ein guter Gedanke: Mich soll nicht alles gleich umwerfen. Ich lasse Störungen an mir abprallen. Aber es gibt auch eine Kehrseite, wenn man Krisen so angeht. Sie heißt: Ich bekämpfe die Störungen nicht mehr, sondern ich integriere sie irgendwie in mein Leben. Ich akzeptiere, was eigentlich nicht zu akzeptieren ist.

Auf diese Kehrseite machen Verantwortliche in karitativen Hilfswerken derzeit aufmerksam. Natürlich ist es richtig, die Widerstandskraft von Menschen zu stärken, ihnen zu helfen, ihre Kraftquellen zu entdecken, damit sie sich in Krisenzeiten ihres Lebens besser schützen können. Aber was ist, wenn dieses Anliegen einen Zustand verdeckt oder überspielt, der verändert werden muss? Wenn nicht mehr nach den Ursachen von Krisen gefragt wird, sondern – entpolitisiert - dafür gesorgt wird, dass Menschen fit gemacht werden für die nächste Katastrophe?

Zum Beispiel werden in der US-Armee Soldaten für den nächsten Kriegseinsatz vorbereitet, indem sie lernen, traumatische Erfahrungen an sich abprallen zu lassen. Ihnen wird beigebracht, dass sie extreme Situationen als einen persönlichen Reifeprozess begreifen sollen. In Israel und anderswo lernen Grundschüler in simulierten Terroranschlägen, Angst durch Atemübungen und positive Gedanken zu bekämpfen.

Bei solchen Programmen wird der Blick auf die inneren Widerstandskräfte der Einzelnen gelenkt – und damit abgelenkt von den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen. Es geht ja darum, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern, Fluchtursachen bekämpfen und Menschen ermöglichen, ihr Auskommen zu haben.

Es stimmt, es braucht große innere Stärke, um mit Krisen umzugehen. Der Apostel Paulus bittet für seine Mitchristen: „Gott möge euch Kraft geben, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen.“ (Eph.3,16) Aber das hat Folgen: Wer diese innere Kraft hat, kann Veränderungen auf den Weg bringen, auch für andere. Deshalb führt der Apostel Paulus den Gedanken weiter und sagt: Denn es geht um ein Leben in Frieden, Gerechtigkeit und Güte (Eph.5,9) – für einen selbst und für alle.

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SWR2 Wort zum Tag

Es war im Juli 1969, ich erinnere mich sehr gut: Als 8jähriges Mädchen gehe ich bedrückt die Treppen zum Schulhaus hinauf. Am Abend zuvor war ich dabei, als alle fasziniert und ein bisschen ungläubig auf den Bildschirm eines wackeligen Schwarz-Weiß-Fernsehers gestarrt hatten: Die erste Mondlandung. Am 21. Juli im Jahr 1969 hat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betreten: ein Mann im Raumanzug, der mit torkeligen und hüpfenden Schritten seinen Fuß auf diesen fernen Himmelskörper setzt. Es war unglaublich: Ein Mensch betrat den Mond, der so fern und unberührbar schien. – Ich habe zwar gewusst, Gott wohnt nicht im Mond, trotzdem hatte ich Angst. Sind wir ihm vielleicht zu nahe gekommen?

Mir ist dieses Erlebnis in Erinnerung, weil ich damals zum ersten Mal geahnt habe, was mir später klar und bewusst geworden ist: Forschung und Wissen machen Dinge menschenmöglich, die mit religiösen und ethischen Werten kollidieren. Wie weit darf der Mensch gehen, wenn er die Welt erobert?

In den Jahrhunderten zuvor hatte die Kirche die Erforschung der Welt kontrolliert und mit Verboten belegt. Dahin will niemand zurück. Aber es gibt auch die umgekehrte Variante: Profit- und maximierungsorientierte Institutionen übernehmen die Kontrolle und treiben alles ungezügelt voran.

Der biblische Schöpfungsgedanke vertritt die Haltung: Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge. Die Welt ist eine Schöpfung Gottes, und auch der Mensch ist ein Geschöpf. Deshalb hat er Grenzen. Er ist Teil eines großen Ganzen, nicht sein Herrscher und Lenker.

Deshalb: Muss wirklich alles gemacht werden, was möglich ist? Diese Frage wird in gesellschaftlichen Debatten diskutiert: Sterbehilfe, Geburtsmedizin, Gentechnik. Aber sie begegnet mir auch in meinen persönlichen Entscheidungen, dann etwa, wenn ich eine bestimmte medizinische Behandlung zulassen soll.

Eine Vorgabe zum respektvollen Umgang mit der Welt und ihren Möglichkeiten, die sie dem Menschen eröffnet, ist die Dankbarkeit dafür. Für mich drückt sich diese am schönsten in einem biblischen Psalm aus, der in wunderbar poetischen Bildern die Welt beschreibt und darüber staunt, was Gott den Menschen alles geschenkt hat – auch den Mond. Der Psalm singt: „Du hast den Mond gemacht, das Jahr danach zu teilen …“ (Ps. 104) Der Mond ist ein Himmelskörper, der die Zeit begreifen hilft. Das ist auch nach der Mondlandung noch so.

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SWR2 Wort zum Tag

„Jetzt steigere dich doch nicht so rein“ – Wenn dieser Satz fällt, ist manchmal Zorn oder Eifersucht, aber oft auch Angst im Spiel. Doch Angst ist ein sehr schlechter Ratgeber, das wissen alle, und es ist ein Gefühl, das einem die Lebenskraft und Lebensfreude raubt.
Dieses Gefühl ist auch in der Bibel beschrieben. Da betet zum Beispiel einer: „Du lässest mich erfahren viele und große Angst - und machst mich wieder lebendig.“ (Ps. 71,20)

Wenn man Angst hat, wird es einem eng ums Herz, man bekommt kaum noch Luft. Angst ist ein unmittelbar körperliches Empfinden. Die Psalmen beschreiben das in eindrucksvollen Bildern: Man fällt in den Rachen der wilden Löwen. Das Wasser steigt einem bis zur Kehle. Angst zeigt sich in körperlichen Beschwerden und psychischen Belastungen.
Was hilft gegen die Angst? Was kann einen aus „dem Rachen der Angst“ reißen, wie es in der Bibel heißt (Hi 36,6)?

Hilde Domin nennt das, was hilft, das „Dennoch-Vertrauen“. Diesen Begriff hat die große Lyrikerin für ihre eigene Lebenshaltung gefunden. Sie ist vor zehn Jahren verstorben (22.2.2006), ihr Grab ist auf dem Heidelberger Bergfriedhof. Hilde Domin mit ihrem „Dennoch-Vertrauen“ liess sich nicht von der Angst beherrschen. Das zeigt ihr Lebensweg: Sie war nach dem Krieg aus dem Exil zurückgekehrt in das Land, das sie bedroht und vertrieben hatte. Sie kam zurück und schrieb mit ihrer Lyrik gegen die Angst. Es brauche den Mut, an die Anrufbarkeit des Menschen zu glauben, sagte sie. Sie war zutiefst davon überzeugt, dass dies möglich sei.

Auf ihrem Grab steht einer ihrer Aphorismen: „Wir setzten den Fuß in die Luft, und sie trug“. Was für ein schöner Gedanke: Mit dem Dennoch-Vertrauen den Schritt ins Ungewisse wagen. Denn: die Luft, der Geist, der Atem trägt mich. Was für ein poetisches Bild für dieses „Dennoch-Vertrauen“!
„Wir setzten den Fuß in die Luft, und sie trug“.

Ich schreibe diesen Satz jungen Leuten als Geburtstagsgruß. Sie sollen sich trauen, in die Zukunft zu gehen. Sie sollen ihr Leben in die Hand nehmen, auch wenn bei vielem noch nicht sicher ist, was daraus werden wird. Sie sollen zuversichtlich sein und Mut zu ihrem Leben haben, nicht übervorsichtig und ängstlich.
Und ich halte ihn mir selbst auch vor Augen, wenn ich ängstlich bin, was werden soll: „Wir setzten den Fuß in die Luft, und sie trug.“

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SWR2 Wort zum Tag

„Du sollst das Kind ehren“. Das ist einer der Leitsätze der berühmten Kindheitsforscherin Alice Miller. Doch sie war nicht die ideale Erzieherin des Kindes, die sie sein wollte. Sie ist mit ihrer bahnbrechenden Theorie in der Praxis ihres eigenen Familienlebens gescheitert. Davon berichtet ihr Sohn Martin im Rückblick auf das Leben seiner Mutter.

Martins Millers Mutter, die Psychoanalytikerin Alice Miller, hatte in den 80er Jahren mit ihren Schriften über die Erziehung von Kindern entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung neuer pädagogischer Ansätze. Bis dahin war die sogenannte schwarze Pädagogik gang und gäbe. Die setzte auf die Macht von Eltern und missachtete die kindliche Individualität. Dagegen stellte Alice Miller das Kind als freies und eigenständiges Wesen heraus. Sie hat damit ein Konzept formuliert, das sie in der eigenen Familie nicht verwirklichen konnte.

Alice Miller hatte eine Last zu tragen, die sie nicht nur in der Öffentlichkeit sondern auch im Familien- und Bekanntenkreis weitgehend verborgen hielt: Sie war als Kind einer jüdischen Familie in Polen groß geworden, die Großeltern orthodox, die Eltern, Tanten und Onkel waren religiös, bürgerlich assimiliert oder zionistisch geprägt. Sie überlebte die Verfolgung durch die Nazis, weil sie sich eine neue Identität verschaffen konnte, als Polin und Nicht-Jüdin und dabei auch ihren Namen wechselte. Diese neue Identität behielt sie. Sie behielt aber auch die große Angst, das Misstrauen und die Gewalterfahrungen, die sie erlitten hatte.

Wie sich das auf sein Leben auswirkte, entdeckte der Sohn erst nach dem Tod seiner Mutter: Die Eltern gaben ihn als Kleinkind eine Zeitlang in Pflege. Der autoritäre Vater verteilte Ohrfeigen, die Mutter schwieg dazu. Sie bestimmte und kontrollierte ihn. Er stieß auf eine Mauer des Schweigens.

Martin Miller sagt von seiner schmerzlichen Entdeckungsreise, sie habe auch Kräfte in ihm frei gesetzt: Die Kraft, das eigene Leben in neuem Licht zu sehen. Die Kraft, sich selbst anzunehmen. Die Kraft, einen Schritt zurückzutreten und das Leben der Mutter anzuschauen als ein ebenfalls verletztes und verunsichertes Leben.
Als Miller von einer Zuhörerin gefragt wurde, ob ihm dieses Wissen helfe, zu vergeben und sich zu versöhnen, sagte er: „Darum geht es nicht. Verstehen kann einfach auch heißen, wieder für das eigene Leben handlungsfähig zu werden.“
Ich finde, das ist eine ehrliche Antwort. Und ein Anfang, aus dem mehr werden kann.

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SWR2 Wort zum Tag

Das „Dschungelbuch“ ist wieder in den Kinos. Nach dem berühmten Walt Disney Film vom Menschenkind Mogli, das mit wilden Tieren im Dschungel aufwächst, ist nun eine Neuverfilmung gestartet. Die Lieder aus dem Disney-Trickfilm sind mir aber immer noch im Ohr. Da singt und swingt der Bär Balou: „Versuch’s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit jagst du den Alltag und die Sorgen weg.“ Und der Panther Baghira verdreht genervt die Augen angesichts dieser fröhlichen Naivität und Sorglosigkeit.

Mir geht es meistens mehr wie dem Panther Baghira: Irgendetwas ist immer, worum ich mir Sorgen mache: die Familie, die erkrankte Freundin, berufliche Herausforderungen, politische Entwicklungen. Ich merke manchmal: Die Sorge kann Herz und Verstand in Beschlag nehmen. Sie gibt auch schon den kleinen Dingen Bedeutung, so dass sie einen großen Schatten werfen können. Ich weiß: Die Sorge ist Wirklichkeit und zugleich schafft sie Wirklichkeit.

Kann man Sorgen hinter sich lassen? Dieser Schritt ist nicht so leicht, denn dazu gehört auch ein Verzicht: Ich muss auf die Sorgen verzichten. Viele Sorgen sind mir aber auch zur Gewohnheit geworden.
Manchmal habe ich den Eindruck: Wenn die eine Sorge verschwunden ist, wächst schon die andere nach. Als müsse der Platz immer besetzt sein, als sei ich in einer merkwürdigen Weise darum besorgt, dass mir die Sorgen nicht ausgehen.

Wie soll das also gehen: Auf die Sorgen verzichten? „Alle eure Sorge werft auf Gott, den er sorgt für euch.“ (1.Petr. 5,7) Dieser Gedanke aus der Bibel sagt: Die Sorgen sind nicht weg. Aber sie bekommen einen neuen Platz. Sie sind an Gott abgegeben. Der trägt das ganze Sorgenbündel mit, das wir mit uns herumschleppen.

Das ist ein kühner und weit greifender Gedanke. Denn die Sorgen haben doch auch eine wichtige Funktion. Die großen weltpolitischen Fragen: Krieg und Frieden, Vertreibung und Flucht, Klimawandel und Ernährungssicherheit: Sind dafür nicht die Sorgen und die Beunruhigung, die sie auslösen, wichtig, sind sie nicht der Motor für Veränderungen?

Doch. Aber: Gerade weil die Sorgen mit der Welt und um die Welt so groß sind, kann ich ihre Last nicht alleine tragen. Ich darf meine Kräfte nicht beim Mir-Sorgen-Machen aufbrauchen. Ich will mich den Problemen zuwenden.
Deshalb brauche ich einen Platz bei Gott, an dem ich meinen Sorgen-Rucksack abstellen und neue Kraft schöpfen kann: „Alle eure Sorge werft auf Gott. Er sorgt für euch“.

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SWR2 Wort zum Tag

An vielen Orten gibt es sie wieder: Die Vesperkirchen. Für ein paar Wochen in der kalten Jahreszeit werden aus Kirchen Orte, in denen arme Menschen nicht nur Nahrung und Hilfe, sondern auch: Freundlichkeit, Wärme, Musik und Unterhaltung und, so ungewöhnlich das klingt: Schönheit bekommen.

Schönheit? Fragen Sie vielleicht. Darüber war ich selbst überrascht. Eigentlich geht es doch um anderes in einer Vesperkirche: Für wenig Geld ein warmes Mittagessen. In einem Kirchenraum, an gedeckten Tischen, ausgegeben und serviert von Helferinnen und Helfern.

Das Besondere an den Vesperkirchen ist: Sie sind auf Zeit, und sie erreichen damit auch Menschen, die am Übergang zur Armut stehen, sie aber aus Scham verdecken und überspielen: alte Frauen und Männer mit kleinen Renten, Familien, die gerade so über die Runden kommen, Menschen, die sich ein gesellschaftliches oder kulturelles Leben nicht mehr leisten können. Diese Armut an den Rändern verfestigt sich in erschreckender Weise, das zeigt der kürzlich erschienene Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung.

Ich war mit Oberstufenschülerinnen und –schülern einen Tag zum Mithelfen in der Vesperkirche. Der Tag hinter den Theken der Vesperkirche war für viele sehr eindrücklich: ein Tag, der ihnen eine bittere Realität vor Augen führte. Aber auch ein Tag, an dem sie erlebt haben: Ich werde gebraucht. Ich kann etwas für andere tun. Ich selbst habe so viel.

Eine Begegnung war auch für mich selbst sehr bewegend: Ich stand vor ein paar jüngeren Männern in der Warteschlange bei der Essensausgabe und unterhielt mich mit zwei Schülerinnen, als hinter mir einer der Männer mit einem Staunen in der Stimme sagte: „In der Vesperkirche gibt es die schönsten Frauen“. Mir war schon klar, wen er meinte. Ich merkte sofort: Das war keine Anmache und keine Zudringlichkeit, er wollte nichts von den jungen Frauen. In diesem Satz schwang vielmehr so etwas wie Dankbarkeit mit: Hier begegnete ihm, der sonst sicher um Aufmerksamkeit kämpfen musste, Schönheit und Freundlichkeit, zufällig, wie ein unerwartetes Geschenk.

Was mir ganz selbstverständlich und alltäglich vorkommt – ein Lächeln, freundliche Worte, unkomplizierte Gespräche – sind Momente, die einen nähren. Auch mich natürlich. Ich muss zugeben: Ich schätze das oft gar nicht, sondern nehme es als gegeben hin. Dabei gibt es so viele Momente von Schönheit und Freundlichkeit. Die Begegnung in der Vesperkirche hat mir das neu bewusst gemacht.

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SWR2 Wort zum Tag

Am Anfang des Jahres werden die Kalender geprüft und das Jahr geplant: Familientreffen und Geburtstage werden eingetragen, kulturelle Ereignisse, die man nicht versäumen will, berufliche Hoch-Zeiten und Urlaube. Und man stellt fest: Die weite Zeitspanne eines Jahres bekommt einen Rhythmus.

Solch ein Rhythmusgeber war ursprünglich auch der Tag heute: Mariäe Lichtmess. Der Tag markiert den Zeitpunkt für Veränderungen. Im bäuerlichen Kalender ist heute der Tag, an dem Zinsen und Pachten fällig waren und Lohn ausgezahlt wurde. Ein Tag, an dem die Arbeitsstelle gewechselt werden konnte. Im kirchlichen Kalender schließt damit nun wirklich der Weihnachtsfestkreis, bevor die Zeit vor Ostern beginnt.

Der Tag gründet sich auf die biblische Erzählung von der „Darstellung Jesu im Tempel“: Nach biblischer Vorstellung war im Lebensrhythmus einer Familie der 40. Tag nach der Geburt eines männlichen Kindes von großer Bedeutung. Es wird erzählt (Luk. 2,22f), dass Maria und Josef mit ihren erstgeborenen Sohn Jesus zum Tempel kommen, um ein Dankopfer zu bringen. Aus diesem Ritual, das im normalen Rhythmus des Lebenslaufes geschieht, wird unerwartet ein prophetisches Zeugnis. Denn die hoch betagten und weisen Propheten Simeon und Hanna erkennen in Jesus das Gotteskind, das seinem Volk und den Menschen das ersehnte Heil bringen wird.

Der Tag markiert also auch im biblischen Erzählfluss nicht nur einen vorgeprägten, Lebensrhythmus, sondern den Moment einer Veränderung. Er verknüpft mit dem alt hergebrachten Ritual eine Begegnung, die Neues ankündigt: Gott überlässt die Welt nicht sich selbst. Es wird Großes geschehen. Das, was kommt, hat begonnen.

Warum habe ich diesen gewichtigen Tag zwischen erwartbarem Rhythmus und unerwartetem Neuen eigentlich nicht in meinem Kalender, und sei es nur als symbolischen Merkpunkt? Die Familie braucht Zeit. Freundschaften wollen gepflegt werden. Die Arbeit gelingt nur, wo Zeiten der Ruhe und Entspannung möglich sind. Ein Jahresrhythmus macht Sinn, natürlich. Aber: Er soll nicht zur Routine erstarren.

An Mariä Lichtmess wird eine Spannung festgehalten, in der ich lebe: Dass auch im Erwartbaren und Planbaren Veränderungen möglich sind. Im Rhythmus des Jahres ist ein Einschnitt festgehalten, an dem auch etwas anders werden kann, wenn es so sein soll. Es muss nicht alles so bleiben, wie es ist. Etwas Neues kann beginnen.

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SWR2 Wort zum Tag

Haltung ist gefragt. Egal, mit wem ich spreche: Ständig muss man sich zu aktuellen Fragen verhalten. In Stuttgart heißen die Themen: Flüchtlinge, Feinstaub, Bahnhof.
Wie komme ich zu einer klaren Haltung in diesen oft heftigen Debatten und Konflikten? Was hilft mir, an bestimmten Punkten auch „Halt!“ zu sagen?

Zwei biblische Bilder dazu sind mir wichtig:
Zum einen das Bild vom Baum, der am Wasser gepflanzt ist (Psalm 1): Sicher und tief sind seine Wurzeln. Er hat Lebenssaft, trägt wunderbare Früchte. Der Psalmbeter beschreibt damit einen Menschen, der in seinem Leben mit Gott rechnet, der sich an den Geboten Gottes orientiert und sich davon nicht abbringen lässt.

In den Psalmen kommen Betende zu Wort, die Angst haben, die wütend oder verzweifelt sind, die nicht wissen, was sie denken sollen. Aber sie bleiben in diesen Gedanken nicht stecken. Sie finden neue Kraft, indem sie sich erinnern: Gott hält mich, auch jetzt. Und können so bösen Angriffen und verletzenden Worten widerstehen und daran festhalten: Ich will etwas für den Frieden tun und für das Wohlergehen auch der anderen. Ich will etwas dafür tun, dass die Fremden willkommen sind und für ein gerechtes und gutes Leben für alle eintreten.

Daneben gibt es ein zweites Bild. Auch dieses Bild beschreibt den Halt, den Menschen in Gott finden. Aber es malt nicht das Kraftvolle, sondern das Anrührende und Verletzliche vor Augen im Bild eines geknickten Schilfrohrs. Der Prophet Jesaja spricht davon, dass Gott „das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird.“ (Jes. 42,3).

Was da beschrieben wird, ist etwas sehr Tröstliches, wenn einen böse Erfahrungen fast umwerfen, wenn sie alle Energie aufbrauchen und verlöschen lassen, so dass man zugeben muss: Es ist fast nichts mehr da. In diese Lebenserfahrung hinein flüstert das Prophetenwort: Das, was noch da ist, wird nicht zerbrochen, es wird nicht ausgelöscht und nicht als unbrauchbar weggeschafft. Gott wird es neu beleben.

Ein Schilfrohr kann sich wieder aufrichten. Ein Docht kann wieder aufflammen. Gott hält das Fast-Zerbrochene und das Fast-Erloschene und macht es wieder lebendig und stark.
Gott gibt beiden Halt, den Geknickten und den Kraftvollen. Ich weiß: Manchmal gehöre ich zu den einen, manchmal zu den anderen. Doch immer zu denen, die gehalten sind.

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SWR2 Wort zum Tag

Man kann nicht alles im Blick behalten, was einem wichtig ist. Ich habe im Laufe der Jahre so vieles aus dem Blick verloren: Studienfreundinnen und –freunde, Weggefährtinnen und Weggefährten aus vielen Jahren, Menschen, an deren Leben ich früher viel Anteil genommen habe. Der Kontakt ist abgebrochen, das Interesse erlahmt. Schade eigentlich. Aber ich kann nicht alle im Blick behalten. Leider.
Manchmal frage ich mich auch im Hinblick auf die Politik: Ist noch alles im Blick, was jetzt notwendig ist? Geraten in den drängenden aktuellen Herausforderungen die Schwächeren in der Gesellschaft aus dem Blick, die auch Fürsorge und Aufmerksamkeit brauchen? Sind die globalen Zusammenhänge genügend im Blick, zum Beispiel wenn es um Fluchtursachen geht? Wer greift ein in den Waffenhandel, wer analysiert und bekämpft die Strukturen der sozialen Ungerechtigkeit, wer verweist auf die von Menschen gemachten ökologischen Katastrophen?
Wer hat da noch den Überblick und den Durchblick? Mich tröstet das Wort, das der Evangelische Kirchentag als Losung für den nächsten Kirchentag 2017 ausgewählt hat. Es heißt: „Du siehst mich“ (1. Mose 16,13), und es erinnert daran: Gott hat seine Geschöpfe und Schöpfung im Blick. Seine Liebe schaut auf das, was sie umtreibt.
„Du siehst mich!“ Ich finde, diese Losung passt zum Reformationsjubiläum 2017 und zum Reformationstag heute. In vielfältiger Weise haben die Reformatoren es beschrieben, in Liedern, Katechismen, Predigten, Vorlesungen: Gott hat die Menschen im Blick. Und damit Menschen das glauben können, lässt sich Gott selbst in den Blick nehmen: in Jesus von Nazareth.
Solus Christus, haben die Reformatoren gesagt. Für mich heißt das: Auf Christus fällt der Blick der Glaubenden, wenn sie Orientierung suchen: Darauf, wie er Menschen und ihre Nöte in den Blick genommen hat. Darauf, wie er im Leiden und Sterben an ihrer Seite bleibt. Darauf, wie er den Tod überwand und ihren Blick über die Endlichkeit hinaus hebt.
Mich tröstet es zu wissen: Ich kann und muss nicht alles im Blick behalten. Das tut Gott. Darauf will ich mich verlassen. Und Christus in den Blick nehmen und mich daran orientieren, wie er mit den Menschen und ihren Nöten umgegangen ist. Das gibt mir Kraft zum Handeln. Auch wenn ich nicht alles schaffen kann, was sein müsste. Auch wenn ich in vielem nicht so gut bin, wie ich das möchte.
Solus Christus: Mit dem Blick auf Christus kann ich getrost das tun, was nötig ist, und was ich tun kann.

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