SWR4 Abendgedanken BW

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Viele junge Menschen wollen nicht zugeben, dass sie staunen, wenn sie ein besonderes Erlebnis haben. Denn normalerweise ist es für Jugendliche selbstverständlich, dass sie cool sind, dass sie ihre Gefühle nicht zeigen und sich darum auch nicht erlauben zu staunen. Vor allem wenn andere dabei sind, die das schnell lächerlich machen können. Staunen ist nicht „in", dafür ist man aufgeklärt. Denn dass ich staune bedeutet, dass ich zugebe: das hätte ich nicht erwartet, das überrascht mich, damit hätte ich nie gerechnet. Und damit stelle ich mich selbst ein Stück in Frage. Wer will schon riskieren ausgelacht zu werden, weil er mit starrem Blick und offenem Mund dasteht und staunt!
Ganz anders hat das Albert Einstein gesehen. Der hat gesagt: Wer nicht staunen kann, der ist schon tot. Er hat daran erinnert, dass die Wissenschaft und die Philosophie da anfangen, wo Menschen erstaunt und betroffen waren von dem, was sie gesehen , aber nicht begriffen haben.  Staunen gehört dazu, wenn wir etwas erleben oder etwas fühlen wollen, darum brauchen wir es auch nicht zu unterdrücken. Es ist doch bewegend , wenn man zum ersten Mal ein neugeborenes Kind im Arm hat. Da will ich nichts weiter als es zu schützen vor Gefahren und ihm  helfen und so etwas von Sinn meines Lebens zu erfahren. Darum finde ich es schade, wenn man dem Staunen im Leben keinen Raum mehr gibt. Wer das Staunen unterdrückt, der lebt gewissermaßen mit angezogener Handbremse.
Vor allem die Dichter haben mit ihren Liedern und wunderbaren Versen dem Ausdruck verliehen, was sie in Staunen versetzt hat. Einer von ihnen war Paul Gerhardt, der vor 350 Jahren gelebt hat und dessen Lieder heute noch gesungen werden. In seinem Weihnachtslied  „Ich steh an deiner Krippen hier"  beschreibt er, wie er selbst dem Kind begegnen möchte und ihm alles schenken will, was er hat. Die Geburt des Kindes wird beschrieben als eine Sonne, die die Nacht vertreibt, als Licht und Leben nach einer langen Todesnacht, als Hoffnung, die das Leben hell macht. Und dann kann er nur noch voller Staunen antworten:
Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen, und weil ich nun nicht weiter kann, bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel in weites Meer,
dass ich dich möchte fassen."

So hat das Staunen ein Ziel: mich dazu zu bringen, Gott zu loben  für die Gaben und Erfahrungen, die mich zum Staunen bringen, und   mir auf keinen Fall das Staunen nehmen zu lassen.

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