SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Wenn man von einer Reise nach hause kommt, sieht man das Altbekannte mit anderen Augen. So geht es mir, als ich aus dem Urlaub heimkehre. Ich öffne die Wohnungstür und empfinde die Größe des Raumes wie beim ersten Mal. Ich schaue auf die Bilder an den Wänden und nehme Einzelheiten wahr, die ich vorher nie gesehen habe. An bestimmten Dingen störe ich mich auch. Zuvor ist sie mir kaum aufgefallen, aber jetzt stört sie mich, die Macke am Esszimmertisch. Und wenn ich dann Nachbarn wiedersehe oder Freunde treffe, sehe ich sie von der Seite an. Sind wirklich sie es, die sich verändert haben? Oder liegt es daran, dass ich sie vorher gar nicht richtig wahrgenommen habe?
Es stimmt schon: Wer aus der Ferne zurückkommt, sieht Altvertrautes mit neuen Augen, mit neuem Interesse, mit neuer Freude. Und ich stelle mir vor, dass Gott die Welt und uns Menschen ganz ähnlich sieht. Jeden Morgen wendet er sich neu zu. Jeden Tag sieht er die Menschen mit neuen Augen, mit neuem Interesse, mit neuer Freunde und vielleicht auch kritischer Aufmerksamkeit. Und diesen frischen, göttlichen Blick kann man spüren, es geht etwas Ermutigendes von ihm aus. All Morgen ist ganz frisch und neu, des Herren Gnad und große Treu - so heißt es in einem Lied. Gott schaut immer wie der neu auf mein Leben, er sieht, was ich brauche, sieht die Möglichkeiten, die in mir stecken, sieht auch, was noch fehlt. Alles verdanke ich diesem gütigen Blick: Dass ich aufstehen kann, dass ich planen und gestalten kann, dass ich meine Grenzen bejahen und Fehler korrigieren kann. Auch dass ich andere um Verzeihung, eine Beziehung neu beginnen kann.
In der Bibel gibt es viele Stellen, die beschreiben, wie Gott seine Welt sieht. Es ist kein beobachtendes, sondern ein kommunizierendes Sehen. Alte biblische Ortsnamen spiegeln die Erfahrung wieder, dass Gott ein sehender Gott ist. JAHWE ROI - du bist der Gott, der mich sieht. Oder PNUEL: Gottes Angesicht ist mir zugewandt. Die mit diesen Namen verbundenen Geschichten erzählen von Gottes Sehen; von Überraschung und Besorgnis, von Freude und Belustigung, von tiefem Verletztsein, von tobender Wut und brennendem Schmerz. So haben die Menschen ihren Gott erlebt. Wie einen väterlichen Freund, der die Tür öffnet und in ihr Leben tritt, der mit ihnen redet, das ein oder andere zurechtrückt, mit ihnen streitet, vielleicht auch mal türenknallend das Haus verlässt. Dann aber kommt er zurück, mit einem neuen Blick, mit einem neuen Wort: "Ich bin für dich da. Ich sehe dich mit jeder Faser deines Lebens. Ich helfe dir durch den Tag. Aber du, fass doch bitte mit an! Soll ich denn alles alleine machen?" Und ich bin dankbar, dass er mich sieht und mit mir redet, dass er sich immer noch soviel Mühe mit mir gibt. Nein, er hat sich noch nicht an meine Fehler gewöhnt, er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus mir noch etwas werden könnte.
Gott glaubt an mich. Er glaubt auch an Sie - sonst würde er uns ja wohl nicht mehr sehen wollen!
Altgewohntes neu zu sehen - das könnten wir Menschen doch auch versuchen, nicht nur nach dem Urlaub. Menschen, die einem begegnen. Dinge und Zustände, die man immer bloß hingenommen, aber nicht wirklich beachtet hat. Den heutigen Sonntag könnte man z.B. neu entdecken, als geschenkte Zeit, als Chance, sich etwas zu gönnen, vielleicht einmal den Gottesdienst zu besuchen. Manches neu Gesehene erfüllt einen mit Dank, manches weckt den Wunsch nach Veränderung. Soviel Grund zur Freude. Soviel Möglichkeit zu helfen, zu fördern, Gutes zu tun.
Gott sieht mein Leben täglich neu.
Im Grunde gibt er mir damit täglich eine Chance zum Neuanfang.
Die will ich nutzen. Und genauso sehen lernen wie er, aufmerksam, wachsam, neugierig.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9058
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