SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

30AUG2008
DruckenAutor*in
Morgen hat meine Schwester Geburtstag. Leider wohnt sie so weit weg, dass ich nicht schnell zum Kaffeetrinken vorbeikommen kann - schade. Es gab allerdings auch Zeiten, da hätte ich ihr einen Kuchen am liebsten ins Gesicht geworfen, statt ihn friedlich mit ihr zu verzehren. Geschwister - das ist eine einzigartige Dynamik von Liebe und Kampf. Kein Wunder, dass zu den brisantesten Geschichten der Bibel Geschwistergeschichten zählen. Der erste Mord der Weltgeschichte ist ein Brudermord, und wenn meine Schwester an Weihnachten das Geschenk bekam, das ich mir eigentlich klammheimlich gewünscht hatte, dann konnte ich Kain ganz gut verstehen. Als ältere Schwester wusste ich als Kind meine körperliche Überlegenheit einzusetzen, doch wie man an der Beziehung zwischen Esau und Jakob lernen kann, ist Witz und Raffinesse der reinen Körperkraft schnell überlegen. Zum Glück ist die Vielehe in Deutschland verboten, denn so eine tragische Geschichte wie die Ehe Jakobs mit dem Schwesternpaar Lea und Rahel sollte nicht wiederholt werden. Die eine ist geliebt, die andere wird mühsam ertragen, die ungeliebte Schwester bekommt Kinder, die geliebte lange kein einziges - ich will mir gar nicht ausmalen, welche Dramen sich im Zelt Jakobs abgespielt haben.
Selbst Jesus wusste, wie das so ist mit Geschwistern. Einer seiner Brüder wurde sogar zu seinem Jünger, andere standen mit seiner Mutter vor der Tür und wollten den ihrer Ansicht nach verrückt gewordenen ältesten Bruder nach Hause holen.
Neid und Eifersucht, aber auch Liebe und Vertrauen lernt man mit seinen Geschwistern. Wer noch nie einen Nachtisch mit Geschwistern teilen musste weiß nicht, wie viel diplomatisches Geschick, Täuschungsvermögen und Überredungskunst ein Mensch mit seinen Brüdern und Schwestern lernen kann.
Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht. Trotzdem erklärt Jesus uns Christen zu seinen Geschwistern - vielleicht auch gerade deshalb. Von Geschwistern kann man sich nämlich nicht trennen, und das will er auch gar nicht. Und so verspricht er uns seine treue brüderliche Liebe, über allen Neid und alle Eifersucht hinweg, und macht uns als seine Schwestern und Brüder zu geliebten Kindern Gottes. So entsteht eine Familiengeschichte der besonderen Art. Wer Menschen so großzügig zu seinen Geschwistern macht, der verwandelt sie. Bei Jesus darf ich die Erfahrung machen, dass es reicht, für alle, auch für mich, um seine Liebe muss ich nicht kämpfen wie um einen Nachtisch, da ist genug für uns alle da. „Wen hast du mehr lieb“ - auf diese klassische Geschwisterfrage antwortet er mit seiner Hingabe. Merkwürdig, plötzlich ist da statt Neid sehr viel Dankbarkeit. Es ist einfach schön, so viele Christen-Geschwister zu haben, mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihren interessanten Persönlichkeiten. So wie es schön ist, eine so wunderbare Schwester zu haben, die leider viel zu weit weg wohnt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4363
weiterlesen...