SWR4 Abendgedanken

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06MAI2024
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In der Bibel lesen ist für mich wie reisen: Beides mache ich gerne und beides ist manchmal echt keine Kaffeefahrt!

Ich stand einmal völlig verloren am Stadtrand von Hanoi in Vietnam und wusste nicht mehr weiter. Ich wollte zu einem großen Busbahnhof, aber weit und breit war kein einziger Bus zu sehen. Oder in Malaysia: Da hatte ich mit Freundinnen eine Regenwaldwanderung geplant. Auf einem Hochstand übernachten und Dschungeltiere beobachten – so hatten wir uns das vorgestellt. Gesehen haben wir zwei Tage nichts außer Tausende von Blutegeln.  

Wenn ich in der Bibel lese, stoße ich auch immer wieder auf Schwierigkeiten. Bei den Psalmen im Alten Testament zum Beispiel. Diese alten Lieder und Gebete sind oft wunderschön geschrieben, wie beispielsweise der Psalm 139, wo es heißt: „Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken, / wie gewaltig ist ihre Zahl! / Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. / Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir.“ So schön, dieser Text.

Aber schon im nächsten Psalm stolpere ich plötzlich über ziemlich drastischen Rachefanasien. Dort steht: „Gott lasse glühende Kohlen auf die Feinde regnen. Er stürze sie hinab in den Abgrund, sodass sie nie wieder aufstehn."

Ehrlich gesagt: Diese Passagen in der Bibel irritieren mich total. Aber wie beim Reisen machen grade die Schwierigkeiten das Bibellesen für mich erst zum Abenteuer. Damals in Hanoi, als ich auf der Suche nach dem verschwundenen Busbahnhof war, hat mir am Ende eine einheimische Familie geholfen. Und nach dem stundenlangen Kampf gegen die Blutegel im Malaysia wusste ich erst, was ich alles schaffen kann.

Wenn ich unterwegs bin, stellt sich die Welt immer wieder dem, was ich erwarte, in den Weg. So ähnlich macht die Bibel es auch, wenn ich in ihr lese.

Und genau das macht es so spannend. Denn wenn es schwierig wird, gibt es vermutlich genau dort etwas zu entdecken, durch das ich etwas Neues über mich und Gott erfahren kann.

Die biblischen Psalmen fordern mich zum Nachdenken heraus, vor allen an den Stellen, wo sie so deutliche Worte finden. Es gibt in der Welt so viel, von dem ich mir leidenschaftlich wünsche, dass es verschwindet. Gewalt z.B. oder Egoismus. Und wenn mir Unrecht und Grausamkeit begegnen, bitte ich Gott dann nicht in ähnlicher Weise, dass diese feindlichen Kräfte „nie wieder aufstehn“?

Vielleicht kann ich die schwierigen Verse in den Psalmen so verstehen. Aber ehrlich gesagt: Zu einer fertigen Antwort bin ich noch nicht gekommen. Auf meiner Reise durch die Bibel ist für mich noch lange kein Ende in Sicht.

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