SWR4 Sonntagsgedanken

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07APR2024
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Ich erinnere mich an eine Kunstinstallation, die in den 70er Jahren eine große Unruhe ausgelöst hat. Der Künstler Joseph Beuys hat mitten in München in einem Fußgängertunnel folgende Szene gestaltet: Vor einer Betonwand stehen zwei Leichenbahren aus der Pathologie, an der Wand hängen zwei Tafeln mit der Aufschrift: „Zeige deine Wunde“. Joseph Beuys hat seine Aktion mit folgenden Worten erklärt: „Zeige die Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will“.

Es ist ein ungewohntes Bild, mitten in einer belebten Fußgängerzone. Josef Beuys zeigt uns den Teil der Wirklichkeit, den wir gerne ausblenden. Er erinnert an Wunden und Verletzungen, an Krankheit und an Tod und weist auf die vielen äußerlich und innerlich angeschlagenen Menschen hin. Es gibt nicht nur die gesunden und fitten Menschen oder die schönen und erfolgreichen. Beuys entzaubert eine scheinbar heile Welt und erinnert daran, wie begrenzt unser Leben ist und wie verletzbar wir sind: Unsere Vorstellung entspricht nicht der Wirklichkeit. Keiner ist pausenlos einsetzbar, wir haben nicht alles im Griff und sind schon gar nicht nur die Macher und Könner. Unser Körper kann versagen, wir fühlen uns erschöpft und ausgebrannt, weil wir oft genug unsere Kräfte überschätzen. Und dann ist da die eine Grenze, über die wir nicht gerne reden. Ich meine den Tod. Die zwei Bahren von Josef Beuys sind unmissverständlich, sie signalisieren: An dieser Grenze unseres Lebens kommt niemand vorbei. Das ist die Wunde, die uns alle betrifft.

„Zeige deine Wunde“ – diese Kunstinstallation kann man heute in einem Museum in München anschauen. Auch nach so vielen Jahren regt sie zum Nachdenken an und provoziert.

Unsere Wunden zeigen – wo können wir das? Wo kommen unsere Ängste und Verletzungen ans Licht? Nach außen hin müssen wir funktionieren, wie es tatsächlich um einen steht, wird verschwiegen. Aber die Fassade trügt. Dahinter sitzt oft ein einsamer oder verzweifelter Mensch, der niemanden hat, dem er sich offen zeigen kann.

Eine biblische Geschichte erzählt von solch einer Situation: Es geht um Thomas, einen der Jünger von Jesus. Der ist nach dem Tod Jesu total verunsichert und zweifelt an dem, was die anderen ihm erzählt haben. Nämlich, dass Jesus auferstanden sei. Ich habe nie verstanden, dass man diesen Thomas den Ungläubigen nennt. Denn er will nicht bloß auf das hören, was die anderen sagen, er will selber sehen, selber erfahren, dass Jesus lebt und bei ihnen ist. Für mich ist er einer, der sucht, der zweifelt und der gleichzeitig ganz tief mit Jesus verbunden ist. Von wegen der Ungläubige! Das macht ihn mir so sympathisch.

Thomas sieht die verwundeten Hände und die verletzte Brust Jesu. Das ist der entscheidende Augenblick. Jetzt kann Thomas an ihn glauben. Erst die Wunden, die Verletzung, die Verletzlichkeit Jesu machen ihn für Thomas glaubwürdig. Da ist einer wirklich ganz menschlich, der sich nicht geschont, sondern sich für die anderen aufgeopfert hat. Da scheut sich einer nicht, auch seine Verwundung und seine Ohnmacht offen zu zeigen. So kann Thomas erkennen, dass Jesus nicht bloße Einbildung, nicht bloße Fantasie ist, sondern ein wirklicher Mensch, nahbar und berührbar. Er erfährt, wie menschlich Jesus mit ihm umgeht. Er versteht seine eigenen Zweifel, sieht seine Not und spürt seine große Sehnsucht.

Für mich ist diese Szene ein wunderbares Beispiel für Freundschaft und Nähe. Zwei Menschen trauen sich, einander ihre Schwäche zu zeigen. Sie müssen sich nicht gegenseitig behaupten und eine scheinbar heile Fassade aufrecht halten, sie brauchen sich nichts vormachen und können sich so zeigen, wie sie sind. Ein Philosoph sagt dazu: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“. Das passt zu der Begegnung von Thomas und Jesus.

Vielleicht hat sich Josef Beuys bei seiner Installation „Zeige deine Wunden“ von dieser biblischen Geschichte berühren lassen. Jedenfalls wusste er, wie heilsam es ist, wenn wir unsere Schwächen zeigen können. Wenn jemand da ist, der uns mit ehrlichen und menschlichen Augen anschaut. Dann können Wunden heilen!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39627
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