SWR4 Abendgedanken

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11MRZ2024
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Ich möchte Ihnen heute Abend eine Parabel erzählen. Sie stammt vom englischen Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton:

Zwei Freunde laufen eine Straße entlang. Sie kennen ihr Ziel und den Weg dorthin. Jedenfalls glauben sie das. Denn plötzlich steht mitten auf der Straße ein Zaun. Für den einen Freund ist die Sache völlig klar: „Der Zaun muss weg, denn er versperrt uns den Weg!“ Der andere Freund erklärt: „Wir dürfen den Zaun nicht einfach einreißen. Wir wissen ja gar nicht, warum er dort steht. Was, wenn die Straße dahinter unpassierbar geworden ist? Oder wenn der Weg im Nirgendwo endet? Es muss einmal einen guten Grund für diesen Zaun gegeben haben. Die Frage ist nun: Besteht dieser Grund bis heute?“

Soweit die Geschichte.

Es gibt Zäune, bei denen wir nicht mehr wissen, warum sie da sind. Zum Beispiel, wenn es um das Verbot der Sterbehilfe geht. Eigentlich war der Grund dafür einmal ganz klar: Jedes Leben ist kostbar. Egal was ein Mensch leistet, ob er gesund ist oder nicht – jeder Mensch hat die gleiche Würde und das gleiche Lebensrecht. Niemand darf daran rühren. Auch nicht man selbst. Auf diesen Gedanken gründet der Zaun, der das Leben jedes Einzelnen schützt.

Trotzdem geraten Menschen in Situationen, in denen sie diesen Zaun einreißen wollen. Wie zum Beispiel beim Vater meines Freundes Stefan. Bei Stefans Vater wurde eine unheilbare Krankheit diagnostiziert. Als Stefan mit seinem Vater darüber sprechen will, was man tun kann, damit er später einmal gut versorgt ist, lehnt sein Vater entschieden ab. Er sagt: „Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Wenn es so weit ist, falle ich dir nicht zu Last. Dann beende ich mein Leben selbst.“

Ich glaube, Stefans Vater kann das nur deshalb so selbstverständlich sagen, weil der Zaun, der das Leben schützt, schon längst durchbrochen worden ist. Zumindest gesellschaftlich: In der Schweiz ist die Sterbehilfe erlaubt, und auch in Deutschland wird über eine Neuregelung nachgedacht.

Ich möchte auf keinen Fall über fremde Schicksale und Entscheidungen urteilen. Aber ich mache mir Sorgen, wohin der Weg führt, wenn der Wert des Lebens verhandelbar ist. Wenn das Leben jedes Einzelnen nicht mehr unumstößlich in seiner Würde umzäunt ist.

In Chestertons Parabel geht es nicht darum, jeden alten Zaun einfach hinzunehmen. Aber bevor ich mich über eine Grenze hinwegsetze, muss ich verstehen, warum sie da ist. Dazu muss ich innehalten und mir Zeit nehmen, den Zaun zu verstehen.

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