SWR2 Wort zum Tag

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13MRZ2024
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Bei mir im Regal steht eine „paradoxe Sanduhr“. So heißen Sanduhren, die rückwärts laufen, also von unten nach oben, wie wenn die Schwerkraft ausgehebelt wäre. Die Sanduhr ist mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Und aus dem unteren Sanduhrteil blubbern ganz kleine leichte Kügelchen durch die Engstelle bis nach oben an die Oberfläche. Mich fasziniert die Technik, und ich könnte minutenlang zusehen.

Aber ich habe sie eigentlich aus einem anderen Grund gekauft. Immer wenn ich besonders gehetzt bin, dann soll sie mich daran erinnern, dass Zeit nicht immer gnadenlos verstreichen muss. Dieses Bild von der Zeit hatte ich nämlich bisher. Meine Lebenszeit, die langsam aber stetig verrinnt, wie der Sand in einer Sanduhr. Manche stellen sich die Zeit auch als Pfeil vor, der bei der Geburt abgeschossen wird und unbeirrbar auf das Ziel zufliegt. Das hat mich oft frustriert. Ich habe mich ständig unter Druck gefühlt, ich könnte was verpassen oder die Zeit nicht gut genug nutzen.

Bis mir ein Freund den Tipp gegeben hat, die Zeit anders zu betrachten: nicht als Linie, sondern als Spirale. Im Körper und in der Natur verläuft auch vieles in Kreisläufen: das Blut, der Atem, wach sein und schlafen, die Jahreszeiten, die Planeten, die um die Sonne kreisen. Warum sollte ich die Zeit nicht auch so betrachten?

Zeit ist doch alles andere als linear. Sie vergeht mal schneller, mal langsamer. Im Stau dehnt sie sich aus, wenn ich im Flow bin, schrumpelt sie ein. Mal arbeite ich wie wild, mal darf ich mich erholen. Mal wünschte ich mir, die Zeit würde fliegen, und dann kann ich sie gar nicht genug auskosten.

Die Zeit als Spirale zu betrachten gefällt mir, denn auf einer Spirale bewege ich mich zwar auch vorwärts, bin aber nicht so sehr aufs Ziel fixiert. Außerdem gibt es mehrere Chancen, an einer Stelle nochmal vorbeizukommen – nur auf einer anderen Ebene. Das nimmt den Druck, alles beim ersten Mal perfekt machen zu müssen. Und da ergeben die vielen Dinge, die ich immer wieder tue, vielleicht sogar einen tieferen Sinn.

Seit ich ab und zu einen Blick auf meine paradoxe Sanduhr im Regal werfe, ist mir wieder bewusster, dass die Zeit nicht mein Feind ist, gegen den ich anarbeiten muss. Nein, Zeit ist meine Freundin. Sie gibt mir zwar einen gewissen Takt, aber sie ist auch flexibel und vor allem: immer wieder geschenkt.

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