SWR2 Wort zum Tag

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04MRZ2024
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Manchmal komme ich als Pfarrerin aus einem Trauergespräch und denke „irgendetwas war komisch“. Mir fehlt dann das Gefühl dafür, wer die verstorbene Person wirklich war. Die Angehörigen haben mir zwar einiges erzählt, aber ich habe den Eindruck, etwas Wesentliches wurde nicht gesagt. So, als wäre die ganze Zeit ein riesiger Elefant mit im Raum gewesen. Und alle tun so, als bemerkten sie ihn gar nicht. Im Englischen gibt es den Ausdruck „the elephant in the room“, der Elefant im Raum: Das ist, wenn alle von etwas wissen und niemand darüber spricht.

Bei einem Besuch in Cambridge habe ich den sprichwörtlichen Elenfanten im Raum vor mir gesehen. Im Fitzwilliam Museum hängt ein Bild des niederländischen Malers Hendrik von Anthonissen: Zu sehen ist ein Nordseestrand an einem Wintertag. Im Hintergrund ein Kirchturm, vorne Menschengruppen. Viele blicken zur See. Bloß gibt es dort überhaupt nichts zu sehen! Zumindest bis vor einigen Jahren. Lange Zeit waren da bloß graue Wellen und man hat sich höchstens gefragt: „Was suchen die alle an diesem kalten Strand?“ Bis zu einer Restaurierung des Gemäldes im Jahr 2014. Dabei wurde mit viel Geschick ein überdimensionaler gestrandeter Pottwal freigelegt. Den schauen sich die Menschen am Strand an! Was für eine Entdeckung! Gemalt wurde das Bild gegen Ende des 30-jährigen Krieges. In der Zeit strandeten erstaunlich viele Wale an der Nordseeküste. Sie galten als Zeichen des Unheils und Schreckens. Während van Anthonissen sich mutig ausgemalt hat, wie das ausgesehen haben muss, wurde die Szene gut 100 Jahre später als zu anstößig empfunden. Mit der faszinierend-schauerlichen Schönheit des Wals, mit seinem traurigen Blick und der Unheilsbotschaft wollte man nichts mehr zu schaffen haben. Aus dem sichtbaren Wal am Strand wurde der sprichwörtliche „elephant in the room“.

Im Blick auf manches Gespräch nehme ich aus der Begegnung mit dem Bild ein Stück Neugier mit: Was steckt dahinter? Worum geht es hier wirklich? Seelsorge – die passiert für mich da, wo etwas sagbar wird. Sie ist ein Raum, in dem jemand ein verstörendes Erlebnis, einen traurigen Blick oder eine Unheilsbotschaft mit mir aushält und dabei nichts übertüncht oder ausradiert. Manchmal gilt es an einem wintergrauen Tag auch erst herauszufinden, worum es eigentlich geht. Das zuzulassen braucht Mut und es braucht Vertrauen. Man weiß ja nicht, wie das Gegenüber reagiert. Aber wo es gelingt, entsteht manchmal ein faszinierend-schönes Bild und ein neuer Blick für ganz alltägliche Lebens-Landschaften.

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