SWR2 Wort zum Tag

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31JAN2024
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In meiner Teetasse ist ein ganzer Sommer eingefangen. Und ich liebe es, ihn jetzt im Winter zu trinken. Den Tee habe ich im Sommerurlaub in einem kleinen Kräuterhof in den Bergen gekauft. Wenn ich ihn trinke, sehe ich wieder die Felder mit all den blühenden Kräutern vor mir, und die Kammern, in denen die Kräuter getrocknet werden. Die Bäuerin hat mir viel darüber erzählt, wie ihre Kräuter wirken und wie heilsam sie sind. Das hat sie von ihrem Großvater gelernt und ihr Wissen über Jahrzehnte (weiterentwickelt. Etwa dass Ringelblume Schmerzen lindert,  Lavendel beruhigt und der bittere Weißdorn den Bluthochdruck senkt.  

Wenn ich jetzt meine getrockneten Kräuter mit heißem Wasser aufgieße, dann werden sie quasi zu neuem Leben erweckt. Das Wasser setzt die Aromen frei, und mit der Wärme und dem Duft steigen Erinnerungen in mir auf.

Da begreife ich: Das Leben ist verwoben. Wir leben niemals nur in der Gegenwart, sondern in unserem Leben wirkt immer auch weiter, was schon war. Deswegen haben  ältere Menschen oft das Bedürfnis, von früher zu erzählen – etwa, was sie als Kind erlebt haben. Sie tauchen dann regelrecht ein in diese alte, vergangene Zeit, und die Gefühle von damals werden wieder lebendig. 

Jeder Mensch braucht  Erinnerungen, um sich selbst zu verstehen und auch um sich mit seinem Leben zu versöhnen. Da erinnere ich mich an schöne Zeiten und auch an schwierige, die mich besonders herausgefordert haben. Wie bei den Kräutern in meinem Tee  gibt es im Leben neben den wohlriechenden und angenehmen auch die bitteren Erfahrungen. Interessant ist ja, dass bei den Kräutern gerade die eine besonders heilsame Wirkung haben.

Wenn ich mit meinem Leben versöhnt sein will, ist das wohl ein wichtiger Schritt: dass ich auch die schweren und leidvollen Erfahrungen annehmen kann. Denn auch sie gehören zu meinem Leben.

Die Kräuter nehmen Nährstoffe aus der Erde auf, die Sonne und den Regen,  Hitze und Kälte – das macht ihre besondere Wirkung aus. Und so bin auch ich geprägt von meiner Herkunftsfamilie und von guten oder auch schwierigen Lebensumständen. Daraus kann ich mich entwickeln und hoffentlich das zum Blühen bringen, was mir wichtig ist. Und was wird am Ende bleiben?

Ich habe die Hoffnung, dass am Ende Einer alles aufsammeln wird. So wie die Kräuterfrau, die ich im Sommer in den Bergen kennengelernt habe. Denn alles, was in meinem Leben gewachsen ist, gehört zu meiner persönliche Lebensmischung.  Und wie schön ist es, wenn sie am Ende wohlschmeckend und heilsam ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39253
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