SWR4 Sonntagsgedanken

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14JAN2024
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Vor zwei Wochen haben wir das neue Jahr begonnen und uns gute Wünsche zugesprochen. Ist inzwischen wieder alles beim Alten? Der Schweizer Dichter Jeremias Gotthelf hat einmal zu seinen Freunden gesagt: „Mit Neujahrswünschen will ich nicht Zeit und Papier verschwenden. Ihr wisst, dass mir solche Förmlichkeiten fremd sind. Überhaupt wäre es besser, die Menschen machten einander ein glückliches Leben, als dass sie es sich nur wünschten.“ Aber wie machen wir uns ein glückliches Leben, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer?

Ich lese gern die Bergpredigt Jesu. Der Evangelist Matthäus hat sie aufgezeichnet. Da steht zum Beispiel: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch Böses antut, keinen Widerstand!“

Geht das? Es mag für Jesus gegolten haben, für Gandhi oder Martin Luther King. Allerdings sind alle drei durch Gewalt umgekommen. Der Apostel Paulus sagt dagegen: „Widersteht dem Bösen“! Die Frage ist nur: wie?

Tut mir jemand etwas Böses, kommt in mir schnell der Gedanke hoch: „Wie du mir, so ich dir.“ Das haben wir gerade nach dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober in Israel erlebt. Verständlich, dass Israels Regierung Vergeltung angesagt hat. Aber löst sie das Problem? Ist jetzt nicht alles viel schlimmer geworden? Wie viel Menschen leiden?

Jesus gibt in der Goldenen Regel der Bergpredigt einen besseren Rat: „Was ihr wollt, dass euch die Andern tun, das tut auch ihnen!“

Ich denke da zum Beispiel an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln. Er wurde genau wie John F. Kennedy umgebracht, nur 100 Jahre früher. Lincoln hat nach seiner Wahl etwas Erstaunliches getan: Er berief seinen größten Gegner aus dem Wahlkampf in sein Kabinett. Seine Freunde haben den Kopf geschüttelt, aber er sagte: “Vernichte ich meine Gegner nicht auch dadurch, dass ich sie mir zu Freunden mache?“ Das hat ja zum Beispiel der jüdisch-argentinische Dirigent Daniel Barenboim mit seinem arabischen Freund Edward Said getan, als er das Jugendorchester West-Eastern Divan aus Juden und Arabern gründete.

Ich selbst habe seit meiner Kindheit ein Herz für Juden, denn in meinem Elternhaus wohnte eine jüdische Familie. Wir waren ein Herz und eine Seele und haben die jeweiligen religiösen Feste gemeinsam begangen.

Ich habe aber auch ein Herz für Palästina, seit ich mit meiner damaligen Böblinger Gemeinde 1979 eine Freundschaft mit palästinensischen Christen in Galiläa geschlossen habe. Was sie und ihre Verwandten im Westjordanland momentan durchmachen, das bewegt mich sehr.

                                                                       

Wenn ich nicht nur die Hamas, sondern auch die Besatzungs- und Siedlerpolitik Israels kritisiere, handle ich mir hierzulande schnell den Vorwurf ein: „Antisemit!“ Erstens ist der Begriff ungenau, weil auch die Araber Semiten sind. Zweitens: Wenn schon, müsste es „Antijudaist“ heißen. Das aber geht für mich als Christ gar nicht. Denn Jesus war und blieb Jude, und die Kirche ging aus der Synagoge hervor. Als Christ bin ich mit den Juden bleibend verbunden.

Meine Kritik richtet sich nicht an Juden, sondern an die gegenwärtige Regierung in Israel, gegen die ja auch schon zahlreiche Israeli auf die Straße gegangen sind. Deshalb ist für mich das Existenzrecht Israels keine Frage, aber ich trete auch für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser im Westjordanland und in Gaza ein.

Ich habe in Jerusalem eine Gruppe kennen gelernt, die Jesu Regel aus der Bergpredigt lebt: den Parents Circle. Das sind jüdische und arabische Eltern, die gemeinsam in eine Familie gehen, in der ein Todesopfer zu beklagen ist – ob jüdisch oder arabisch. Sie tragen das Leid gemeinsam, weil sie wissen: Leid kann man nicht gegeneinander aufrechnen, sondern nur miteinander tragen. So verwirklichen sie Jesu Wunsch: „Was ihr wollt, dass euch die Andern tun, das tut auch ihnen!“ Zu Recht haben sie unlängst einen Preis bekommen.

Ich freue mich auch, dass beim diesjährigen Weltgebetstag der Frauen im März palästinensische Christinnen zu Wort kommen. Sie haben die Gebetsvorlage erstellt. Ich habe sie bereits gelesen und bin sehr berührt von den persönlichen Zeugnissen dreier Palästinenserinnen. Was mich besonders bewegt: Trotz aller Gewalt, die diese Frauen erleben durch Siedler und das israelische Militär, sehen sie sich verwurzelt in der Liebe Jesu und möchten diese Liebe in ihre Umwelt tragen.

Meine palästinensischen Freunde in Galiläa sind Christen der orthodoxen Kirche. Sie haben meinen Horizont geweitet durch die Gottesdienste, die wir zusammen gefeiert haben, hier wie in Galiläa. So hoffe ich mit ihnen, dass der Traum Jesu wirklich wird: „Was ihr wollt, dass euch die Andern tun, das tut auch ihnen!“

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: In diesem Sinn Gottes Segen fürs neue Jahr.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39159
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